25 Mai 2023

Kamel Daoud: Meursault, contre-enquête

Kamel Daoud Meursault




Jusqu'à présent, c'est le meilleur livre d'un auteur algérien que j'ai lu.

Pour ceux qui connaissent "L'étranger" d'Albert Camus, ce roman en est l'épilogue, écrit du point de vue du frère de l'"Arabe" sans nom que Meursault, l'anti-héros de Camus, a abattu de sang-froid, sans donner d'histoire ni même de nom à la victime.

Kamel Daoud signe ici un petit chef-d'œuvre. Une partie importante de la littérature post-coloniale, qui accuse l'attitude coloniale évidente selon laquelle les colonisés ne sont qu'une masse de gens ("Arabes") qui ne sont pas dignes de leur propre histoire et même de leur propre nom.

Camus a été et est toujours largement célébré en Europe et dans le monde entier comme l'un des auteurs les plus influents du 20e siècle. Ce que Kamel Daoud souligne magnifiquement ici, c'est qu'il était aussi un raciste avec un état d'esprit de colonisateur.

Mais Daoud ne s'arrête pas là. Fervent défenseur d'une société pluraliste et ouverte dans son pays d'origine, l'Algérie, qui est très, très loin d'être ouvert ou pluraliste, Daoud ne se prive pas de critiquer l'Algérie d'aujourd'hui.

Le roman se déroule essentiellement dans un bar, où le frère de l'Arabe assassiné parle à une personne non décrite (le lecteur), et il devient évident au fur et à mesure que l'histoire se déroule qu'il s'agit probablement d'un visiteur venu de France, fan de l'œuvre de Camus et en quête de l'identité de l'"Arabe" assassiné dans le livre de Camus.

Après avoir trouvé le frère, qui est devenu un vieux pilier de bar dans un pays où les bars n'existent plus vraiment, où l'alcool est mal vu et où la religion semble être la seule chose qui reste, Daoud a composé certaines des attaques les plus poignantes et parfois les plus amères contre l'islam que j'aie rencontrées jusqu'à présent.

Ou, pour être plus précis, le type d'islam tel qu'il est propagé et vécu dans la société algérienne d'aujourd'hui.

J'espère que ce livre sera davantage lu en Algérie même, un pays où il n'est pas facile de mettre la main sur des livres qui ne sont pas le Coran.


12 Mai 2023

Hermann Hesse: Gesammelte Werke 3 - Gertrud - Kleine Welt

 

Hermann Hesse:

Gesammelte Werke 3

Gertrud

Kleine Welt

 

Nach vielen Jahren Pause (und des Lesens anderer Bücher) also Retour zu Hesse.

Gertrud, nach Camenzind Hesse's zweiter "Roman" (eigentlich nur eine Novelle auf 190 Seiten), erweckte in mir ganz ähnliche Gedanken wie 2015 die Lektüre vom Camenzind.

Und zwar, dass in diesem frühen Werk schon in Ansätzen zu spüren ist, was später in Romanen wie "Demian" und dem "Steppenwolf" zur Blüte gelangen wird. Aber auch, dass diese frühen Würfe noch nicht "fertig" sind. Natürlich wird das dem Autor und seinem Werk nicht gerecht, denn ich gehe davon aus, dass der junge Hermann Hesse auch hier sein alles gab und aus dem Vollen schöpfte. Erst in der Rückschau kann man erkennen, dass hier "Würfe", "Entwürfe" entstanden sind, die wichtig Schritte auf dem Weg zum "richtigen" Werk des Autors waren.

"Gertrud" hat einige Erinnerungen an "Camenzind" hervorgerufen. Hier ist der Protagonist kein ungehobelt wirkender Almbauernsohn in der Stadt, sondern der verkrüppelte Sohn eines reichen Kaufmanns mit Talent und Passion für die Musik und das Komponieren.

Gertrud, quasi seine Muse, ist, wie so oft in Hesses Werken, die "unerreichbare Schön", und der - auch durch Liebe verkrüppelte - Komponist Kuhn quasi ein moderner Minnesänger. Und sein bester Freund, der draufgängerische, trinkende Schauspieler Muoth, ein Grobian mit wenig Feingefühl aber großem Herz (und Durst). Natürlich heiratet der dann auch noch die Muse, wie sollte es anders sein.

Was ich nach Beenden der Lektüre etwas verwundert dachte ist: die Figur eines ehemaligen Lehrers des Protagonisten Kuhn, den er zwei-, dreimal im Laufe der Erzählung trifft und der ihm von seiner "Religion", der Theosophie, berichtet, ist ein Handlungsstrang der einfach mal so abgewürgt wird. Außerdem erscheint es mir als seltene Ausnahme in Hesse's Werk, dass er so eine Lehre direkt beim Namen nennt. In späteren Werken wird eher angedeutet. Die "Morgenlandfahrt" könnte eine Chiffre für die Freimaurerei sein - es wird aber nicht explizit der Name einer Organisation etc.... genannt. Ich vermute, der spätere Hesse hat hier absichtlich abstrahiert, um die Klammer größter zu halten. Der Junge Hesse war da noch deutlicher.

Nach all dem Leiden, Schaffen, Suchen und Ringen ist das Fazit am Ende der Novelle und aus meiner Sicht die Kernaussage von "Gertrud" der folgende Abschnitt:

"Das Schicksal war nicht gut, das Leben war launisch und grausam, es gab in der Natur keine Güte und Vernunft. Aber es gibt Güte und Vernunft in uns, in uns Menschen, mit denen der Zufall spielt, und wir können stärker sein als die Natur und als das Schicksal, sei es auch nur für Stunden. Und wir können einander nahe sein, wenn es not tut, und einander in verstehende Augen sehen, und können einander lieben und einander zum Trost leben.

Und manchmal, wenn die finstere Tiefe schweigt, können wir noch mehr. Da können wir für Augenblicke Götter sein, befehlende Hände ausstrecken und Dinge schaffen, die vordem nicht waren und die, wenn sie geschlossen sind, ohne uns weiterleben. Wir können aus Tönen und aus Worten und aus andern gebrechlichen wertlosen Dingen Spielwerke erbauen, Weisen und Lieder voll Sinn und Trost und Güte, schöner und unvergänglicher als die grellen Spiele des Zufalls und Schicksals. (...) Wir können unser Herz dem Leben nicht entziehen, aber wir können es so bilden und lehren, daß es dem Zufall überlegen ist und auch dem Schmerzlichen ungebrochen zuschauen kann."

Soviel zu "Gertrud".
Diese Geschichte war bereits keine leichte Kost. In diesem Band folgt aber noch die Kurzgeschichtensammlung "Kleine Welt", die damals nicht gleichzeitig wie der Roman "Gertrud" erschien, aber noch zu Hesses Frühwerk gehört.

Was soll ich sagen? Ich habe es gelesen, damit ihr es nicht lesen müsst.

Tut es euch nicht an. Es ist mühsam. Und die Inhalte dieser Geschichten, die größtenteils im Schwäbischen Kleinstadtmilieur spielen, ähneln sich alle und ähneln auch früheren Geschichten. Immer ist der Protagonist männlich, anders als der Rest der Gesellschaft und immer geht es entweder (im Falle jüngerer 'Helden') um das Erwachsen werden und das Finden eines Weges in die Gesellschaft, oder, wenn es sich um ältere Männer handelt, um den Versuch, mal mehr, mal weniger tiefgründige Gedanken über den Sinn des Lebens anhand dieser Romanbiografien darzustellen.

Die fiktische schwäbische Kleinstadt Künzelsau taucht mehrmals auf und ich bin ehrlich - die Geschichten haben mich so sehr gefesselt, dass ich zwischendrin mehrere andere Bücher gelesen haben (z.b. zwei Romane von Stephen King und ein Buch über indische Astrologie). Mit anderen Worten: es war eine Qual und ich habe es nur zu Ende gebracht, weil Hesse mir einst viel bedeutete und meinem Leben im Alter von 17, 18 Jahren Sinn und Richtung gab.

Diese aktuelle Gesamtausgabe lagert seit nunmehr fast 20 Jahren in meinem Bücherregal, begleitete mich von Tübingen nach Dublin und nach 13 Jahren dort bis aktuell nach Paris- und ich möchte die Schriften von Hesse zumindest einmal im Leben gelesen haben.




07 Dezember 2022

HieroSolis: La Voie de l'Aurore

At the time of writing, the book is only available in French.

It is rare that a French book on occultism (well, at least since Eliphas Lévi's: "Dogme et Rituel de la Haute Magie") is a 'must read' and should be available in as many languages as possible.

This is one of those books.

That I know the author personally doesn't have (much) to do with it - it only made me know, while reading the book, that it's a 'real' one - from the practice to the world.

And that is not always the case when it comes to books about occultism in general and the Hermetic Order of the Golden Dawn specifically.

Well, that's not really accurate - the key authors of books about the Golden Dawn have all been either members of the original order or of off-shoots that are based on it.

Still, in our day and age, it is really difficult to get into touch with an active member of one of those "off shoots" that are actually 'authentic' (whatever that means) and not based on 2nd or 3rd hand material that was adjusted and put into practice by a "more or less well meaning crowd of people".

As the name is not legally protected, everybody theoretically could open a group practicing magic and claim to be an authentic follow-up organisation of the original.

But back to this book.

What I really enjoyed while reading it was that it doesn't try to be "just another version of what is already out there in abundance". Since Israel Regardie has published, more or less uncommented, the vault of the original documents of the Golden Dawn, there has been a wealth of authors publishing rituals, 'secrets', or long-winding overviews about the history of the original organisation and the diverse follow-up groups.

If one is interested in any of those, they should just grab the next Regardie, Zalewski or Cicero.

HieroSolis has chosen another approach: a concise and really well-written overview of the (briefly put) history of the organisation, the various spiritual, religious and esoteric traditions it was based upon and what organisations it branched out into.

That part is held rather brief, and is therefore one of the best overviews to get a general idea about the Golden Dawn and the impact it had on Western Occultism as a whole.

What then follows is a walk-through the symbols, grade system and other areas of interest for people either having joined a "Golden Dawn inspired" group or considering to do such a thing.

What this results in is a really well-written "one stop shop" for all things concerning the Golden Dawn and it also puts into the right light what one should expect upon joining the order (and what one shouldn't expect!).

From my personal point of view and experience, even having already read a couple of books about the topic, the book was helping me to gain clarity about many different points of my knowledge, assumptions and practice.

I therefore highly recommend it to anyone interested in the topic.


01 Dezember 2022

Stephen King: "Fairy Tale"

Stephen King:

Fairy Tale

 The most important thing first: I thoroughly enjoyed reading this book!

It is already speculated if "Fairy Tale" signals the beginning of a new writing style era for The King. Could be, but I truly don't care.

This book, I can imagine, was something he needed to write at the beginning of the COVID19 pandemic. A "feel good" book so to speak.

When normal people huddle in front of the fire and and eat comfort food, a person like Stephen King seems to write a "comfort book".

And I thank him for that.

I started the pandemic reading through Murakami's "19Q4", a book that reflected the strange stages that I was going through while confined to my Paris apartment. At the end of that book, I wouldn't have been surprised to see actually two moons appear in the sky above.

In "Fairy Tale", the hero also enters another world, and there, too, two moons circle above the sky. The parallels between King and Murakami end here, though. The other world in 19Q4 is a parallel version of our world, whereas Empis, the Fairy Tale world Charles (Sharly?) enters is a real "Other".

The book is firmly divided into two parts - the beginning is in the US state of Illinois and introduces the reader to the protagonist. The hero is a 17 year old boy named Charlie Reade and he is a bit like Luke Skywalker or Harry Potter a bit of a blank canvass, too.

Yes, King goes through great length to add some back story to Charlies life - like he loss of the mother when still a child and having had to deal with an alcoholic father (King probably hands out first-hand knowledge here) and that's all fine, but in the end the I-perspective of that "template young man with a great love for a dog and a tendency to serve others" fulfills the perfect task of allowing a broad spectrum of readers to jump on his back like the Snab and see the adventure through his or her own eyes.

The influence of Baum and Lovecraft is very strong in this book, and probably of a couple of other authors that I am not familiar with.

Be that as it may - the story is captivating, a real "page turner" and the "Master of Horror" plays nice in this book. Yes, there are tough moments and also some gruesome ones, but overall this book is as wholesome as a King novel can get.

And I loved it.

I also loved the many references to the "Stephen King Expanded Universe" aka "The Dark Tower" series strewn in here and there. And the references, openly stated, to many pop culture trophies. This is not a "The Walking Dead" setting where no one knows the word "Zombie".

Mr. King - thank you for that one. It was the perfect read through a challenging autumn that had me stressed out and then getting unexpectedly fired from my job just at the beginning of Christmas season.

From Paris with Love,

Hakim aks "Elric"

03 April 2018

Exkursion: Impressions from my trip to the USA

Da ich mit dem Bücher rezensieren eh eine Pause einlegte, bzw. mit dem Bloggen an sich, längere Ausführungen aber nach wie vor besser in einem Blog als bei Facebook aufgehoben sind, hier nun ein kleiner Sonderbeitrag auf Englisch. Wenn es mehr werden, nenne ich es meine Reihe an:
'Murica stories.
Loose collection of encounters during my two weeks in California.

The Palestinian Uber
One thing is for sure: when you move in the Valley or SF, you move with Uber. Taxis are hilariously expensive in comparison, and the next Uber is never further than 2 minutes away.
Even when staying in at my hotel on evenings where I had to work, I used UberEats in order to order freshly prepared food from restaurants of my choice in a 5-10 mile radius.

Interestingly enough, most of my Uber drivers were Arabs, with Morocco and Tunesia leading the charts. The one or odd local SF Uber driver was among them, but most of them would not have made it into the country if things were to roll according to "The Trump". But they were all naturalized US citizens, so that's that.

My politically most interesting Uber drive was also my longest: when moving from my hotel in Palo Alto, where I had stayed for the new hire onboarding, to San Francisco, where I was to spend my second week in the land of the formerly free and home of those know to have been brave, just before the fear of terror transformed them into loud, tiny hate-rabbits.

My Uber driver was from Palestine and of course my name triggered the eternal question-chain: "Where are you from? You have a Muslim name" (Standard reply: my name is Arabic, it doesn't mean that I'm a Muslim, in fact names are just names, they are usually not inherently "religious"; "Islam" and "Christian" being prominent exceptions). "Are you a Muslim?" ("By jove, no! In fact, if there was a god I would want him killed!") (This reply not always leaves my lips, I need the driver to carry me to my destination and not to let me on the side of the road like the Qoffar I am).

Anyways. We were chatting about 'murica, how things have changed since Trump and how it must be to be a Muslim of Arabic heritage in that country. We also confirmed that Algeria, the home country of my father, is one of the most ardent advocates of Palestine and enemies of Israel and somehow that always earns me bonus points with Palestinians. That I have zero Palestinian but a lot of Israeli friends; that I am a stout advocate of Israeli sovereignty and love the Golda Meir citation that the war will only be over the day the Arabs love their children more than they hate the Jews - all these things are better left unsaid, too. Remember? I love to reach my destinations.

Anyhow, we didn't talk too much about the middle east and it's unsolvable problems. But he told me the story of the Uber-passanger just before me. A Korean war veteran ('old guy') from somewhere "not-California, probably a Hillbillie", he talked the whole journey how California is infested with "libtards", that we need more military and soldiers and that Trump will "right the wrongs" that have been wrought upon the holy American soil by unholy "politicians" like Obama. The usual Republican monologue.

The Uber driver started to laugh: "I'm so happy he was obviously nearly blind. Not one moment did he suspect to sit beside an Arab - he just couldn't see good enough in order to realize that I am one of 'them'"!

We parted laughing, wishing us well (I have now another blessing of god, and he just had to be happy with my best wishes and a nice tip) and I started my second week in 'murica with a smile on my lips.

01 Januar 2016

Rückblick - Meine einzige "veröffentlichte" Geschichte: "Der Weltenwanderer"

Im Herbst 1997, ich war Zivildienstleistender im Altenpflegeheim, nahm ich an einem Autoren-Preisausschreiben Teil. Veranstaltet wurde es vom damaligen Pop- und Jugendradio des Süddeutschen Rundfunkts, SDR3, in deren Magazin "Wilder Süden", und der Abteilung "Hobbit Presse" des Stuttgarter Verlagshauses Klett-Cotta.

Gesucht wurde der "wildeste Autor im Süden": "Wir suchen phantastische, kreative Schriftsteller zur Erschaffung der ultimativen, epochalen, wildsüdlichen Fantasy-Geschichte."

Die Story durfte maximal über vier Seiten gehen, und es gab 30 Preise zu gewinnen. Einzige Vorgabe war es, den einleitenden Absatz als Startpunkt der Geschichte zu nehmen.

Vorab: ich habe damals den zweiten Platz gewonnen, ein erstes Anzeichen dafür, dass meine Träume, eines Tages ein "richtiger" Autor zu werden, nicht ganz an den Haaren herbeigezogen waren. Leider habe ich mich seitdem nicht wieder aufgerafft, ernsthaft zu Schreiben - angefangene Romanvorlagen liegen seit fast 20 Jahren in der Schublade, immer war "das Leben" wichtiger: das Studium, der Beruf.... andere Dinge eben.

Da ich die Geschichte nie "digital" festgehalten hatte, hier nun also die volle Story, die mir den glorreichen 2. Platz eingebracht hatte...

Die Preise übrigens scheinen ganz generell mein Schicksal wiederzuspiegeln.
Der erste Platz war eine Reise nach Oxford "auf den Spuren von J.R.R. Tolkien" gewesen.
Der dritte Platz "ein delikates Abendessen mit den Machern der Hobbit Presse" (also eigentlich noch besser als der erste Preis).

Ich hab wie gesagt den zweiten Preis gewonnen.... einen Besuch der Bavaria-Filmstudios in München. #fml

Der Weltenwanderer


[Erster Satz: Vorgabe der Veranstalter] Lange vor der Entstehung des homo wildsüdlicus, als das Nichts und der ewige Sturm die Erdoberfläche beherrschten, spielte sich das Leben ausschließlich in den Tiefen der Ozeane ab, im Innern des ewigen Eises und der Dunkelheit des Erdreiches. Drei verschiedenen Populationen gelang es, sich den widrigen Lebensumständen anzupassen...

Grolgorosch lehnte sich erschöpft gegen den Felsvorsprung. Er war nun schon etliche Stunden ohne Rast marschiert, um Draltal, sein geliebtes Heimatdorf, noch rechtzeitig vor der Kalten Welle zu erreichen. Schweißperlen standen an seiner Stirn, die, obschon er noch ein junger Gnomling war, schon etliche Denkfalten aufwies. Schweißgenäßt war auch sein langer, schwarzer Bart, den er regelmäßig von den ersten grauen Haaren befreite. Er war einfach nicht dazu bestimmt, wie die meisten seines Volkes vom Abbau der Salzkristalle zu leben, auch wenn sie die wichtigste und gesündeste Nahrung darstellten, die es für einen Gnomling nun einmal gab.
Grolgorosch war schon immer ein Träumer gewesen, der seine Zeit lieber dichtend und denkend, musizierend und mit dem Genuß eines Bieres, daß aus speziellen Pilzen gebraut wurde, verbrachte, als mit einer "anständigen Arbeit". Er wußte, Rilka war deshalb oft unglücklich, behauptete, er liebe sie nicht, da er kein guter Arbeiter und Ernährer sei. Ihre Tränen schmerzten ihn oft sehr, aber er konnte sich trotzdem nicht untreu werden und ein geregeltes Gnomlingleben führen. Um ihren Tränen, ihrer Wut und - vor allem - dem Spott der anderen Draltaler zu entgehen, hatte sich Grolgorosch schon in den ersten Jahren ihrer Ehe zu einem Vagabunden entwickelt. Er schlug nur soviel Salzkristalle, wie zum Überleben unbedingt notwendig waren, zollte auch dem König im fernen Finsterstein regelmäßig Tribut. Den Rest seiner Zeit verbrachte er mit langen Wanderungen im umliegenden Geröllwald, ja, manchmal hatte er sich sogar bis in die gefürchteten Wasserhöhlen vorgewagt. Die Legenden und Schauermärchen seines Volkes erzählten von furchtbaren Ungeheuern, die in diesen Höhlen hausen sollten, und auf deren Speiseplan an erster Stelle Gnomlinge standen. Grolgorosch wußte, daß sie irrten. Schließlich hatte er jene "Monstren" schon gesehen: wunderschöne, anmutige, glitzernde Wesen, mit hellen Stimmen wie gurgelndes Wasser und bezauberndem Gelächter. Sie lebten in den Meeren, und nur manchmal tauchten sie in einer der Höhlen auf, um einen neugierigen Blick auf die ihnen so fremde Welt aus Stein zu werfen, die für Grolgorosch die Heimat darstellte.
Vor einiger Zeit hatte er sich einer dieser Wasserfrauen - einem ganz besonders hübschen Exemplar mit wassergrünen Augen und einem in vielen Farben funkelnden Fischleib - zu erkennen gegeben. Zuerst war sie erschrocken, aber bald merkte sie, daß von ihm keine Gefahr ausging, und so waren sie sich schließlich näher gekommen. Oft saßen sie nur stundenlang beisammen, ohne ein Wort zu sprechen, jeder Gefangener in des andern Blick. Dann wiederum vergnügten sie sich scheinbare Ewigkeiten lang beim Liebesspiel, um sich schließlich ermattet und selig wieder zu trennen. Es gab auch Zeiten, in denen sie in ernsten Gesprächen über das Leben in den verschiedenen Welten sprachen - und über die Kalten. Scylla - so hieß die Schönheit aus den Wassern - berichtete oft vom großen Unheil, daß die Kalten auch in ihrer Welt anrichteten. Grolgorosch ahnte in solchen Momenten am Schrecken in Scyllas Augen erkennen zu können, wie arg ihr Wüten auch im Reich des Wassers war. Auch er kannte die unheiligen Taten, die jene Namenlosen anzurichten imstande waren. Es geschah nicht selten, da fand man einen Gnomling, der bei der Arbeit die Zeit vergessen hatte, grausig erfroren in einem Stollen liegen. Die Kalten waren unberechenbar und unbarmherzig. Sie kamen mit der Kalten Stunde, wenn die Pforten nach oben sich öffneten und der Wind der Kälte hinabfuhr von der Hölle in die Welt. Nur im Schutz ihrer Felswürfel waren die Gnomlinge sicher vor der eisigen Hand des Todes. Dies war nicht immer so gewesen...

Grolgorosch erinnerte sich an eine Legende, die sich die Ältesten der Alten seit undenkbaren Zeiten erzählten, und die er selbst von seiner Großmutter gehört hatte, als er noch ein Kleinling gewesen war. Die Geschichte erzählte von einer Zeit, als es noch keine Kalten gab. Wenn sich in jenen Tagen die Pforten nach oben öffneten, dann brachten sie wohlriechende Düfte und lachende Luftelfen. Damals soll es auch einen großen See aus Feuer und flüssigem Stein gegeben haben, weit im Süden, wo keine Salzkristalle wachsen. Es hieß, der Feuersee sei beheizt worden vom heißen Atem eines gigantischen Drachen. Es hieß auch, daß der Feuersee von schwarzgelb schillernden Schwefelechsen bewohnt gewesen war, die blitzschnell und sehr heiß (aber gutmütig) gewesen sein sollen. Der Drache begnügte sich damit, den Feuersee mit seinem Flammenatem warmzuhalten, unter der Bedingung, daß er aus jedem Königreich - dem der Gnomlinge, dem der Wassernixen und dem Luftelfen und seinem eigenen, dem Feuersee - in regelmäßigen Abständen ein Opfer zur Nahrung erhielt. Ansonsten würde er, so drohte er allen Völkern, den See erkalten lassen und blutige Ernte halten.

Lange Zeit blieben die Dinge so in ihrer natürlichen Ordnung: der Drache war fern und ruhig, und jedes Volk ließ viermal im Jahr das Los darüber entscheiden, wer sich zum Wohle aller in die Arme des heißen Todes zu begeben hatte. Bis das Los auf die Tochter des Tentosis, des Königs der Meere, fiel. Obwohl seine Tochter bereit war, den Preis für die Freiheit zu zahlen, wehrte sich ihr Vater erbittert gegen dieses Schicksal. Denn seine Tochter war sein Augapfel, sein ein und alles: um nichts in der Welt würde er sie opfern! Und so schmiedete er einen finstren Plan. Er nahm Kontakt auf mit den unheiligen Kalten, seelenlosen Wesen aus den Eishöhlen des Nordens. Diese finsteren Kreaturen waren bereit, einen Pakt mit König Tentosis zu schließen und ihm zu helfen, den Drachen zu töten. Mit einem Speer aus magischem Eis erlegte Tentosis den Feuerwurm.

Alle Völker unter der Erde feierten diesen Tag als Tag der Erlösung - nie wieder würde einer ihrer Geliebten den feurigen Tod sterben müssen. Doch das Erlöschen des Drachenfeuers hatte andere Folgen. Zuerst bekamen es die Schwefelechsen zu spüren. Der Feuersee fing an, zu erkalten, und das Magma erstarrte zu hartem Lavagestein. Innerhalb kürzester Zeit fanden Tausende von Echsen den Tod. Bald spürten auch die anderen Völker, daß die Tat des Tentosis nicht ohne Folgen bleiben sollte: da der Drache die einzige Wärmequelle gewesen war, erkalteten alle Reiche nach und nach. Die Luft an der Erdoberfläche konnte sich nicht mehr wehren gegen die Kälte der Äußeren Hölle - dieser Kälte fielen die Luftelfen zum Opfer. Das Reich der Wassernixen verwandelte sich mehr und mehr in Eis - zuerst fielen die Polarmeere des Nordens und Südens in die Hände der Kalten, schließlich schrumpften die weitläufigen Ozeane immer mehr zusammen, bis sie auf die jetzige Größe geschwunden waren. Und im Reich der Gnomlinge fielen viele den eisigen Luftattacken zum Opfer, die von einer finsteren Magie gesteuert wurden. Im Laufe der Zeit hatten sich die Gnomlinge mehr und mehr vom Rest der Welt isoliert. Die Luftelfen gerieten nach ihrem Aussterben rasch in Vergessenheit, ebenso die Schwefelechsen. Den Wassernixen haftete die schuldhafte Tat ihre Königs an - die Gnomlinge begegneten ihnen erst feindselig, um ihnen dann ganz aus dem Weg zu gehen. Heute gab es nur noch Gerüchte über die Ungeheuer aus den Wassern.

Doch im Moment hatte Grolgorosch andere Sorgen. Nach einem Besuch in den Wasserhöhlen (und einem Treffen mit Scylla), hatte er sich aufgemacht in die südlichen Regionen des Erdreiches. Dort wollte er Ausschau halten nach Spuren des längst erkalteten Feuersees... wer weiß, vielleicht fand er sogar Überreste des Drachen? Nach stundenlangem Umherirren in den weitläufigen Höhlen wurde sich Grolgorosch schlagartig der Zeit bewußt. "Verflixt und eingestürzt! Wenn ich es nicht rechtzeitig nach Draltal schaffe, wird es mich im wahrsten Sinne des Wortes eiskalt erwischen!" Erschrocken fuhr er sich mit der Hand vor den Mund: es war sonst nicht seine Art, Selbstgespräche zu führen. Die Tatsache, daß er dies nun tat, verhieß nichts Gutes. Er war nun schon seit Stunden durch die Südhöhlen gelaufen, und erst jetzt gestand er sich ein, was er eigentlich schon längst wußte, jedoch stets verdrängt hatte: er hatte sich verlaufen. Ja, so einfach und banal diese Feststellung auch klang, so hart traf sie trotzdem - oder gerade deshalb - sein Ehrgefühl: ER, Grolgorosch, Sohn des Gringolaf, Wanderer zwischen den Welten, Entdecker fremder Wesen, hatte einen so törichten Fehler begangen! Wenn das seine Freunde aus Draltal wüßten! Beschämt wie ein dummer Kleinling müßte er vor ihnen in den Boden versinken, nur Spott und Belehrungen erntend. Aber so sehr er auch mit dem Schicksal haderte - daran gab es nichts zu ändern! Und so langsam war es ihm egal, ein "sehr blamierter" Gnomling zu sein, dachte er nur an die möglichen Folgen: wenn er es nicht schaffte, vor der Kalten Stunde Draltal und seinen sicheren Wohnfelsen zu erreichen, dann würden ihn die Kalten Geister der Luft mit tödlicher Sicherheit in einen "sehr toten" Gnomling verwandeln - was allemal schlimmer war.

Grolgorosch erhob sich langsam vom Felsvorsprung, auf dem er einige Zeit gerastet hatte, um wieder einigermaßen zu Kräften zu kommen und sich auch seelisch wieder etwas zu beruhigen. Der grauschwarze Felsen war von roten Adern durchzogen und strahlte eine angenehme Wärme aus. "Eigentlich seltsam!", dachte er. "Obwohl der Drache schon seit langem tot ist, gibt es immer noch Wärme, tief im Erdreich!" Vielleicht waren jene Geschichten wahr, die von einem anderen Drachen erzählten, der weit im innersten Erdring wohnte und dort vielen Völkern ein glückliches Leben ohne Angst vor den Kalten ermöglichte. Bisher hatte er diese Geschichten immer für Märchen gehalten, aber seit seiner Begegnung mit Scylla war er sich dessen nicht mehr so sicher... und nun, hier, ohne jegliche Orientierung und mit den Kalten im Nacken, erschienen sie ihm wahrer und wahrscheinlicher zu sein denn je. "Die Angst ist die Mutter des Glaubens" besagte eine alte Gnomling-Weisheit (von denen es eine Menge gab), und in diesen Augenblicken bewahrheitete sie sich aufs Deutlichste.

Der schwarzrote Felsen ragte in eine große Felsenhalle hinein. Hinter Grolgorosch lag wie ein dunkles Loch der Gang, durch den er gekommen war. Der Weg endete abrupt an diesem Felsvorsprung. Vor sich blickte er hinab auf eine Höhle, die selbst für einen Gnomling schlichtweg gigantisch war. Eigentlich handelte es sich um eine Art Felsendom. Und tatsächlich schien der Ort eine gewisse Heiligkeit auszustrahlen. Seine Wände waren alle in jenem matten Schwarz gehalten, von roten Adern durchzogen. Rund war dieser große Dom, und seine Wände liefen oben in einer spitzen Kuppel zusammen. Erst nach einiger Zeit wurde sich Grolgorosch der Tatsache bewußt, daß er seit mindestens einer viertel Stunde mit offenem Mund auf den sich ihm darbietenden Raum starrte. Sein Felsvorsprung befand sich auf halber Höhe zwischen der Kuppel und dem Boden. Und dann fiel ihm auf, daß es noch mehrere solcher Felsvorsprünge gab, die, auf gleicher Höhe gelegen, alle in den Felsendom hinein führten. Er zählte insgesat zwölf solcher Gänge, seinen mitgerechnet. Durch die symmetrische Architektur des Domes neugierig geworden, beschloß Grolgorosch, der Sache auf den Grund zu gehen. Schließlich wirkte diese Halle zu perfekt, zu konstruiert, um eine Laune der Natur zu sein. Außerdem nahm er der dunklen Farbe des Felsens wegen den Boden nicht genau wahr. So geschah es, daß er die Kalten total vergaß, und mit dem Abstieg begann.

Dies war kein leichtes Unterfangen, da die Wände lange nicht so rauh waren wie die Wände in Grolgoroschs Heimat. Zudem strahlten sie eine Wärme aus, die ihm fremd war. In Draltal und Umgebung waren die Felsen viel kälter. Doch er war ein geschickter Kletterer, und so kam er schließlich unbeschadet auf dem Boden der Höhle an. Seltsam war, daß der Boden noch glatter war als die Wände, er wirkte irgendwie poliert. Dies war dann wohl der endgültige Beweis, daß diese Höhle von intelligenten Wesen bearbeitet, wenn nicht sogar ganz aus dem Stein gehauen worden war. Doch wer konnte das gewesen sein? Er konnte sich nicht erinnern, jemals so beeindruckende Gnomlingsarbeit gesehen zu haben. Auch wenn die Gnomlinge stolz waren auf ihre Baukünste - ihre Bauwerke waren vielleicht schmuckvoll und gemütlich - aber niemals so majestätisch und kolossal. Er blickte sich in der riesigen Halle um. Hier unten schien es keinen Ausgang zu geben, nur Felswände. Seine Schritte hallten laut in der großen Halle. Er stieß einen begeisterten Pfiff aus. Gleich danach bereute er dies - das Echo war einfach unheimlich. Vielfach hallte es von den Wänden ab, um sich allmählich in einen seltsamen, pfeifenden Ton zu verwandeln... der ihm irgendwie bekannt vorkam! Er lauschte aufmerksam in die Höhe. Nein, das war nicht mehr das Echo seines Pfiffs... dies war das sirrende Pfeifen der Kalten! Sie kamen, und sie kamen näher, das konnte er genau hören. Panik ergriff ihn, als er sich der Tatsache bewußt wurde, daß er die Kalten total vergessen hatte... und das wegen einer blöden Höhle!

Verzweifelt rannte er durch die Halle... irgendwo mußte es doch einen verflixten Ausweg geben! Aber nichts zu machen... es gab - bis auf die zwölf Felsvorsprünge in zirka zehn Metern Höhe - keine weiteren Ausgänge... und von dort oben kam das Pfeifen! Es wurde lauter und lauter, und zum ersten Mal in seinem Leben sah Grolgorosch, was er sonst nur im Schutz seines Felswürfels gehört hatte: die Kalten. In seiner Vorstellung waren es immer große Wesen aus Eis gewesen, die auf magische Art und Weise durch die Lüfte schweben konnten... seine Phantasie hatte ihnen Klauen, rotglühende Augen und reihenweise scharfe Zähne angedichtet... aber die Wirklichkeit war natürlich ganz anders. Wenn auch nicht besser. Bis auf das Pfeifen schienen sie lautlos durch die Lüfte zu gleiten. Er konnte keine genauen Formen erkennen, vielmehr schwebten sie wie kalter Rauch durch die Luft. Es war gerade dieses gestalt- und namenlose Wesen, das ihn in Angst und Schrecken versetzte. Solche Wesen glichen nichts, daß er jemals gesehen hatte. Folglich war es sehr wahrscheinlich, daß sie auch keine Empfindungen, wie Gnomlinge sie haben, kannten. Sie waren verdichteter Schrecken, sichtbar gewordener Tod, hörbares Grausen... und sie kannten keine Gnade. Grolgorosch machte sich auf seinen Tod gefaßt. Verzweifelt kauerte er sich gegen eine Wand, verbarg sein Gesicht in den Händen, und wartete auf sein Ende. Doch statt der erwarteten kalten Berührung, statt eines quälenden Schmerzens, geschah - nichts. Das Pfeifen blieb im Raum, schwoll sogar noch an, immer mehr der Kalten versammelten sich in der Halle. Aber sie kümmerten sich nicht um ihn. Verwundert hob er seinen Blick und versuchte zu begreifen, was er da sah. Exakt in der Mitte der Halle, also in der Luft, hatten sich Dutzende dieser unheiligen Dampfwesen versammelt. Sie schwebten teilweise durcheinander, es schien so, als könnten sie sich gegenseitig durchdringen. Doch was auch immer sie hier taten - ihr Interesse galt nicht ihm. Und dann begriff er.

Dank seiner dunklen Haut verschmolz er quasi mit den ihn umgebenden Felsen. Falls also einer der Kalten herab auf den Boden des Felsendomes blicken sollte, so würde er ihn gar nicht wahrnehmen. Und noch etwas schoß ihm durch den Kopf: dieser schwarze Fels strahlte Wärme aus. Die Felsen in seiner Heimat waren kalt. Vielleicht hatten die Kalten gar keine Sehkraft, wie Gnomlinge sie kennen. Vielleicht nahmen sie nur die Wärme einer Kreatur war. Und inmitten des warmen Felsgesteins konnten sie ihn einfach nicht... herausspüren. Grolgorosch beschloß, dies zu testen. Er stand auf und lief auf dem Boden der Halle herum. Nichts passierte. Die Kalten schwebten weiterhin in der Mitte der Halle, so als hätten sie ihn gar nicht wahrgenommen. Fast hätte er losgelacht vor Stolz auf seine Entdeckung. Nicht nur, daß er der erste Gnomling der Geschichte war, der die Kalten gesehen und überlebt hatte - er hatte auch noch herausgefunden, wie sie ihre Opfer erkennen. Im letzten Moment verkniff er sich den Lacher, als ihm einfiel, daß er ja trotzdem noch inmitten einer todbringenden Gefahr war - die zwar nicht gut sehen, vielleicht jedoch hören konnte. Eine Veränderung im Pfeifen der Kalten lies ihn erneut nach oben schauen. Das Geräusch schwoll an, bis es fast die Schmerzgrenze erreicht hatte, um dann in einem lauten Knall zu explodieren. Und mit diesem Knall stoben die Kalten auseinander - jeweils in einen der zwölf Ausgänge. Kurz darauf waren sie verschwunden, und mit ihnen schließlich auch das Geräusch. Was zum Felsenbeißer war hier geschehen? War dies eine Art Versammlungsstätte der Kalten? Starteten sie von hier aus ihre blutigen Feldzüge? Fragen über Fragen... aber Grolgorosch war vorerst zufrieden, noch am Leben zu sein. Jetzt hieß es nachdenken. Einerseits hatte er noch genügend Salzkristalle im Beutel, um tagelang durch unbekannte Regionen zu streifen und vielleicht noch mehr über das Treiben der Kalten herauszufinden. Außerdem hatte er nun ja eine Art sicheren Außenposten, der es ihm erlaubte, auch zur Stunde der Kalten fern von Draltal zu weilen. Andererseits wußte er immer noch nicht, wo er genau war, wo Draltal von hier aus lag. Er bereute es, von den Südhöhlen keine Karte angefertigt zu haben, so, wie er es in den Wasserhöhlen gemacht hatte. Dort hatte er sich nie verlaufen. Während Grolgorosch über dies alles nachdachte, schlenderte er mehr oder weniger aufmerksam durch den Felsendom. Er war gerade zu dem Schluß gekommen, daß es wohl weiser sei, zuerst einmal den Weg nach Hause zu finden, um später mit Schiefertafeln und Kohlestiften zurückzukommen und alles genauf aufzuzeichnen, als er in der Mitte der Halle an ein Hindernis prallte.

Verwundert unterbrach er seine Gedankengänge und stellte fest, daß er dieses Gebilde vorher gar nicht gesehen hatte. Wie auch, war es doch aus total schwarzem Stein gemacht. Es war ein runder Stein, der Grolgorosch etwa bis an die Hüften ging. Was er wohl darstellte? Vielleicht einen Altarstein, auf dem die Kalten ihre Opfer vertilgten? Bei genauerer Betrachtung stellte er verblüfft fest, daß es viel mehr war, als ein Stein. In der Mitte befand sich ein Loch, schwärzer als die Nacht, und kein Grund war zu erkennen. War es eine Art Brunnen? Er nahm einen Salzkristall aus dem Beutel und war ihn in den vermeintlichen Brunnen. Dabei fiel ihm auf, daß ein angenehm warmer Luftzug aus dem Brunnen strömte. Er lauschte in die dunkle Tiefe hinein, nahm aber kein Geräusch wahr. Es war auch kein Aufprall zu hören. Entweder war der Schacht sehr, sehr tief, oder Grund äußerst weich - auf jeden Fall war Grolgoroschs Neugierde geweckt. Er mußte wissen, was sich am Grunde des Schachtes befand! Die Wände des Schachtes waren rauh, unbehauen. Dort herunterzusteigen schien eine leichte Übung für einen so geschickten Kletterer zu sein. Nur die undurchdringliche Finsternis bereitete ihm Sorgen. Trotzdem faßte er sich ein Herz und begann mit dem Abstieg...

... die Dunkelheit schien ihn zu verschlucken. Eine so totale, ja fast greifbare Finsternis hatte Grolgorosch noch nie erlebt. Er fragte sich, ob es zur Erzeugung einer solchen Art von Dunkelheit auch einer eigenen Quelle bedürfe, so wie für Licht... Kalte Schauer liefen ihm über den Rücken, er bemerkte einen schwefeligen Geruch, außerdem wurde es merklich wärmer. Der Abstieg schien ewig zu dauern. Nach einiger Zeit erzeugte die Monotonie eine große Müdigkeit. Halb in Trance stieg er weiter und immer weiter hinab. Bis er schlagartig aus seinem Dämmerzustand gerissen wurde - von einem wohlbekannten, markerschütternden Pfeifen. Es kam von oben, und es kam näher. Die Kalten! Irgendwie hatten sie seine Spur aufgenommen. Doch wie sollte er sich wehren? Wohin entfliehen? Er begann, schneller und schneller zu klettern. Doch das Pfeifen wurde immer lauter. Er war zu langsam. Und dann waren sie da. Er sah ein weißgelbes Leuchten über sich, dann spürte er die Eiseskälte, wie sie ihn schlagartig und erbarmungslos umgab. "Jetzt heißt es Abschied nehmen von meiner geliebten Welt!", schoß es ihm durch den Kopf. Er spürte noch, wie ein Stück Fels, daß er verzweifelt mit seiner rechten Hand umklammert hielt, abbrach. Dann verlor er den Halt und fiel. Mit rasender Geschwindigkeit stürzte er in die bodenlose, schwarze Tiefe. Er registrierte noch, wie das Pfeifen sich veränderte - fast könnte man meinen, es klänge wütend - und dann hatte die Dunkelheit plötzlich ein Ende.

Grolgorosch fiel durch die Decke einer riesigen Höhle, die um ein Vielfaches größer war als der Felsendom. Eine schier unerträgliche Hitze herrschte hier. Vor dem Aufprall - der seinen Tod bedeuten würde - sah er nur noch, daß die Felsen hier eine feuerrote Färbung hatten. Und der Boden bestand gänzlich aus Lavagestein. Nur in der Mitte der runden Lavafläche befand sich eine Art Insel aus schwarzem Basalt, in dessen Mitte ein großes, rotschwarz gesprenkeltes Ei thronte. Mit einem Schrei prallte Grolgorosch auf dem spitzen, harten, unebenen Lavagestein auf...

... und Stefan erwachte. Schweißgebadet saß er in seinem Bett, den Mund noch geöffnet vom Schrei, den er soeben ausgestoßen hatte. Dieser Traum... er war so real gewesen, so wirklich! Er hatte sich tatsächlich für den Gnomling Grolgorosch gehalten... und die Kalten? Wo waren sie? Unsicher blickte er sich um. Nein, sein Zimmer war wie immer. Der Schreibtisch, der Schrank, sein Computer - alles war am rechten Platz. Kein bodenloser Schacht, keine Kalten, kein Lavagestein... aber auch keine Abenteuer, kein Draltal und keine Scylla! Stefan fühlte sich verwirrt, und auch ein wenig traurig. Nein, er war kein Gnomling, der Abenteuer in fremden Welten erlebte, er war Stefan Radbruch, wohnte bei seinen Eltern in Böblingen und besuchte die neunte Klasse des Gymnasiums... alles total normal, langweilige Tatsachen. Erschrocken stellte er fest, daß sein Buch etwas zerknittert am Boden lag. Er war wohl wieder einmal beim Lesen eingeschlafen. Behutsam hob er es auf. Es war der zweite Band von Tolkiens "Herr der Ringe". Er war gerade an der Stelle, an der die Gemeinschaft des Ringes durch die Höhlen von Moria zog und der leichtsinnige Pippin einen Stein in einen tiefen Brunnen geworfen hatte. Das erklärt alles. "Tja", dachte Stefan enttäuscht. "Die Welt ist halt leider nicht halb so magisch wie ich sie gerne hätte!"

Beim Aufstehen stieß sein rechter Ellbogen gegen etwas hartes. Es war ein schwarzer Stein, von roten Adern durchzogen. Stefan nahm ihn in die Hand, spürte seine Wärme. Und lächelnd freute er sich auf die nächste Nacht. Noch war die Welt nicht gänzlich ohne Magie. Noch gab es Hoffnung.

29 November 2015

Naceur-Charles Aceval: "Der Mann, der nicht sterben wollte. Märchen aus dem Maghreb."

Erzählt von: Naceur-Charles Aceval

Mit Vorwörtern von Prof. em. Hermann Bausinger und Dr. Seddik Bibouche

 

"Das Wort reist, und es findet immer sein Ziel."

 

Dies wird eine sehr subjektive Buchbesprechung, denn der Autor ist mein Vater und ich habe mit ihm gemeinsam die erste Rohfassung zu Papier gebracht, damals, 2007, als wir noch nicht wussten wie schwierig und langwierig es werden wird, einen Verleger zu finden.

Aber dieses Blog ist ja kein "ordentliches" Rezensionsblog. Der Verfasser hat nie Literatur fachlich studiert und es geht hier um mein Biblioversum, meinen ganz persönlichen Bücher-Raum im Netz.








Ein bisschen (mehr) Biographie und Autobiographie
oder: "Was Sie beim Lesen des Buches auf keinen Fall erfahren werden"

Ich kann weit ausholen. Das ist mein Blog, und ob Sie, lieber Leser, mir auf meiner Reise durch biographische und autobiographische Gefilde folgen werden oder nicht, kann mir zum Glück herzlich gleich sein.

Doch wo beginnen? Wahrscheinlich irgendwo zwischen Genesis 1,1 und jenem schicksalshaften Frühjahr 2007,  an dem mein damals noch sehr frischgebackener Märchenerzähler-Vater und ich uns zu unserem allmorgendlichen Ritual trafen.

Es war einmal.... vor immerhin schon über achteinhalb Jahren, da begab es sich im Dorfe Weil im Schönbuch, dass ein 31jähriger Arbeitsloser und Hartz-IV-Empfänger, der damals noch an der Endfassung seiner Magisterarbeit in dem Fache der Japanologie arbeitete, sich parallel aber schon auf Arbeitssuche befand, sich jeden morgen in seinen über 15 Jahre alten Golf II setzte und aus dem benachbarten Holzgerlingen in sein Heimatdorf und in die Wohnung seiner Eltern fuhr. Der Vater, ein ehemaliger Energieanlagenelektroniker, der auch schon etliche Jahre arbeitslos war (Denkanstoss: Ausländer, über 50, Doitschland - null Chance auf Anstellung), hatte aus der Not des Nichtstunkönnens eine Tugend gemacht und sich darauf besonnen, welche Talente und Schätze er in sich trage.

Zunächst war da seine Liebe zum Kochen. Viele Jahre bereits hatte der mittelalte Berber seine Familie nicht nur mit Geschichten, sondern vornehmlich mit seinen Kochkünsten verzaubert. Angefangen hatte dies früh, als das Heimweh in ihm die Sehnsucht nach dem Couscous seiner Mutter erweckte. Auch aus dieser Not hatte er eine Tugend gemacht (wie wir sehen werden, besteht darin Teil seiner Zauberkraft - er verwandelt den Schmerz in etwas Köstliches, das seinen Wert vor allem dadurch erhält, dass es mit anderen geteilt wird), und schon bald war er weit und breit berüchtigt als der kochende Alchemist von Weil im Schönbuch. Unsere Feste waren legendär - ob nun das klassische Couscous Royale oder andere Köstlichkeiten (seine Lammkeule hatte den pubertierenden Sohn nach dreimonatiger Fleischabstinenz wieder zum Fleischessen "bekehrt") - Charles Aceval war ein Star-(Hobby)koch und dazu noch ein beliebter Gastgeber. Und dies nicht nur wegen des roten Weines, den es in unserem Hause natürlich auch immer in Strömen gab. Sondern - natürlich - wegen der Ströme von Geschichten, Anekdoten, Witzen oder Bonmots, die Charles ganz den Gästen und Gegebenheiten anpasste. Dass er dabei oft auch mal über die Stränge schlug, davon weiß seine Frau, davon wissen seine Kinder zu berichten. Doch das ist eine andere Geschichte und diese muss nicht erzählt werden.

Doch zurück zu jenem magischen Frühjahr 2007. Es war ein schwäbischer Frühling, wie es schon viele gab. Die Bäume schlugen aus, die Allergiker allergikten, und die Luft am Rande des Dorfes war voll von Neuanfang und Hoffnungen.

Das tägliche Ritual war das Folgende: der Sohnemann entstieg, damals noch weniger schwerfällig als heute, seinem Golf II, der Vater war in der Regel schon längst auf, hatte bereits seinen Morgenspaziergang über die Feldwege von Weil im Schönbuch gemacht und setzte nun eine Karaffe köstlichen Kaffees auf, in der Regel mit Zimt oder Galgant gewürzt und natürlich nach Berberart stark gesüßt.

Und dann setzten sie sich in das Arbeitszimmer. Der Sohn vor dem Computer, der Vater oft auf dem Boden - ganz wie im Maghreb eben. Und dann begann er, ein Nomadenmärchen zu erzählen. Nach dem ersten Durchlauf unterhielt man sich erst noch über die Geschichte, dann schrieb der Sohn eine Rohfassung auf, und versuchte dabei, die Worte des Vaters, die sehr natürlich flossen und nicht schriftsprachlich formuliert waren, eben in jene Schriftsprache zu übersetzen, ohne dass sie ihren Geist, ihre Essenz verlören. Das war ihm nur möglich, weil er schon als Kind viele Geschichten von den Eltern zu hören bekam. Vom Vater eben Märchen aus den algerischen Hochebenen, von der Mutter die guten Hausmärchen Grimmscher Herkunft.

Es war eine schöne Arbeit, denn es verband Vater und Sohn wie ein Band, dass zuvor nur unbewusst zwischen ihnen bestanden hatte, jetzt aber deutlich hervortrat. Der Sohnemann, der als starker Introvert schon in seiner Kindheit (vielleicht mit sieben, acht Jahren) so Dinge sagte wie: "Ohne Freunde könnte ich leben, aber ohne Bücher niemals!". Der Sohn, der überallhin seine Bücher mitnahm, und sich auch auf Feiern bei Bekannten und Freunden lieber mit den Romanhelden als mit den anwesenden Personen beschäftigte. Der schon Weltflucht betrieb, lange bevor er wusste, dass dies überhaupt ein Wort war.

Und der Vater, der eher extrovertierte, der die Energie der Gäste brauchte, schon damals, ein Publikum, mit und zu dem er sprechen konnte. Den die Priester der örtlichen Neuapostolischen Kirche vergeblich versuchten, zum Glauben zu bekehren, die aber immer wieder kamen, weil sie die Gespräche und den angebotenen Rotwein so attraktiv fanden. Ja, die teilweise sogar - und ich behaupte das steif und fest! - wegen dieser Gespräche ins Zweifeln kamen und fast vom Glauben abfielen. Und wenn sie schon nicht gleich ganz abfielen, dann doch in ihren Ansichten weniger absolut und wesentlich offener, toleranter wurden.

Denn schon damals war der Vater ein Botschafter gewesen in der Enge der schwäbischen Dorfwelt. Ein "Araber", (der manchmal auch ganz praktischerweise als "Franzos" durchging, wenn er es mit etwas einfältigeren Zeitgenossen zu tun hatte) - ein Unbekannter und nicht ganz greifbarer. Einer, der in Algerien Sport studiert hatte, dem aber in Deutschland noch nicht einmal ein Hauptschulabschluss attestiert wurde. Und der in seiner Not und geistigen Einsamkeit zu Büchern griff. Zu Schopenhauer, zu Tucholski, und zu vielen anderen. Bald fühlte er, dass seine Arbeitskollegen ihn nicht immer verstanden. Zu hoch gegriffen waren oft seine Gedankengänge. Doch aufgewachsen in Algerien, wo man noch obrigkeitshöriger ist als im alten Preußen, fand er keinen Anschluss zu Menschen, bei denen er auf Verstädnis, ja auf Freundschaft hätte hoffen können - es fehlte ihm am Mut, Kontakte zu diesen "höheren Kreisen" zu suchen.

Schließlich kam die Arbeitslosigkeit. Wie eine bleierne Weste senkte sich die Banalität des Alltags auf ihn. Tagein, tagaus wusste er nicht, was er mit sich und all der Zeit anfangen sollte. Die Gänge auf das Arbeitsamt waren deprimierend - es gab keine Hoffnung auf eine Neuanstellung, soviel wurde ihm bald klar gemacht.
Und so musste er sich in einem Alter, in dem andere schon an die Frührente anfangen zu denken, an eine Neuorientierung seines Lebens machen. Die Kinder waren flügge geworden, die erzieherische Aufgabe war erfüllt - was nun?

Die Rettung kam in Gestalt seiner Schwester Nora. Diese war in Frankreich bereits eine bekannte Geschichtenerzählerin und Autorin vieler Bücher für Kinder und Erwachsene. Sie hatte die Materie studiert, hatte eine Magisterarbeit über die mündlichen Erzähltraditionen im Maghreb geschrieben, ja war auf ethnografische Fahrten durch Algerien gereist und hatte mit einem Diktiergerät bewaffnet alte Mütterlein beim Erzählen noch viel älterer Geschichten aufgezeichnet. Sie hatte Charles eingeladen, sie auf eine Märchenkonferenz an die Loire zu begleiten. Er ging mit als der Bruder und als ausgezeichneter Couscous-Koch. Und dort geschah es - wie im Märchen - dass er in einem Loire-Schloss landete und der Besitzer ihn abends aufforderte, auch etwas zu erzählen. Als Bruder der berühmten Erzählerin habe er doch sicherlich auch etwas davon in sich. Er sei ja bestimmt mit denselben Geschichten groß geworden. Das war er. Und die Aufforderung zum Erzählen war wie ein "Sesam öffne Dich" für Charles gewesen - wo davor nichts war als die Frage nach der Aufgabe, sprudelte eine köstliche Quelle an Geschichten. Es hörte gar nicht mehr auf - der Damm war gebrochen.

Seitdem kennen alle Raben und auch so mancher Bussard und streunende Katze den Märchenerzähler von Weil. Denn seitdem geht er morgens, manchmal auch mittags, seine Runden über die Felder am Rande der Ortschaft, und erzählt seine Geschichten dem Himmel, den Bäumen, den Tieren, wie einst Franz von Assisi. Er stellte erstaunt fest, dass die Märchen nicht nur alle bereits in ihm waren, sondern auch, dass sie viel mehr waren als aufgezeichnete oder gemerkte Information. Sie waren wie Lebewesen. Und je mehr Geschichten er erzählte, umso mehr neue Geschichten wurden wach und wollten auch hinaus und erzählt werden. Denn das Wort reist, und es findet immer sein Ziel.

Anfangs, also bereits vor 2007, hatte Charles sich vor allem in Tübingen und Umgebung mit dem Konzept "Couscous und Märchen" versucht, einen Namen zu machen. Beizeiten machte er für das Mittagsmenü im Café-Bistro "LaTour" im Tübinger Französischen Viertel die Speisekarte. Auf Feste (runde Geburtstage, vor allem) wurde er eingeladen. Anfangs stand das Essen im Vordergrund, aber bald merkte er, dass der "Nachtisch" an Geschichten - seien es Märchen und Weisheitsgeschichten aus dem Maghreb, seien es biografische Erzählungen aus seiner Kindheit im Algerienkrieg - auf einen viel größeren, und beinahe unstillbaren Hunger bei seinen Auftraggebern stießen. Und so wagte er erste Schritte ohne das kulinarische Drumherum.

Der Sohn musste da an eine Episode aus seiner Kindheit in Weil im Schönbuch denken. In der Hartmannstraße waren die Kinder damals, Ende der 70er-Jahre, alle mit Fahrrädern bestückt gewesen (damals gab es das Konzept des Fahrradhelmes noch nicht, trotzdem sind alle unbeschadet groß geworden). Er war stolzer Besitzer eines knallroten Fahrrades, natürlich mit Stützrädern. Da die Kinder aber die ganzen Sommerferien hindurch jeden Tag für viele Stunden mit ihren Rädern die Straßen auf- und ab fuhren, standen seine Stützräder bald immer weiter ab. Ein älterer Nachbar konnte das irgendwann einmal nicht mehr länger ertragen und hat die Stützräder abgeschraubt. Der Sohn war bis zum Schluss der felsenfesten Überzeugung gewesen, ohne die Stützräder sofort umfallen zu müssen - obwohl er sie schon längst nicht mehr nutzte. Natürlich ging es von da ab auch ohne.

Zu dem Zeitpunkt, an dem der Vater seine Stützräder peu à peu abschraubte, wanderte der Sohn leider nach Dublin aus. Wegen seines Vornamens und seiner Studienwahl war es ihm nicht gelungen, eine Arbeit in Deutschland zu finden. In Großbritannien und Irland jedoch boomte es damals noch, und man konnte sich vor Jobangeboten kaum retten. Als ein Headhunter der Firma Google ihn am Ostermontag 2007 anschrieb, wollte er die E-Mail bereits als Spam löschen. Vier Monate später kam er mit Sack und Pack (und circa 800 Büchern aus 31 Jahren Leseleidenschaft) im trüben Dublin an.

Den steigenden Stern seines Vaters sah er aus der Ferne mit Freude, Stolz und immerwährendem Schmerz - nicht direkt teilhaben zu können an seinen Freuden, Auftritten und Aktivitäten war und ist ein Stachel in seiner Seite.

Einer der frühen Auftritte des Vaters war allerdings in Dublin gewesen! Im Frühjahr 2008 hatte der Sohn Kontakt mit dem dortigen "Narrative Arts Club" aufgenommen, und dieser organisierte freundlichkeitshalber die sehr stilvollen Räume im "Library Room" des Central Hotel. Gäste waren vor allem KollegInnen aus deutschsprachigen Teams, aber auch andere "Expats" kamen, denn man hatte am hiesigen Goethe-Institut einen Aushang angebracht.

In Deutschland folgten ein Radio-Interview mit dem Tübinger Alternativ-Sender "Wüste Welle", eine Einladung zu "Kaffee oder Tee" des SWR Fernsehens; schließlich eine 30-minütige Dokumentation des SWR, "Der Märchenerzähler", die man heute noch auf YouTube anschauen kann.

Ein Meilenstein war ein neunseitiges Special in der bundesweiten Zeitschrift "Brigitte Woman", welches seinen Bekanntheitsgrad erheblich vergrößerte und ihm Aufträge in ganz Deutschland, aber auch in Österreich und der Schweiz bescherte.

Trotz all dieser relativ frühen Erfolge fand sich weit und breit kein Verlag, der Interesse an dem Buchmanuskript hatte - von den renommierten Verlagen hagelte es Absagen. Und so schlummerte das Buchprojekt, wie einst die Märchen selbst, und wartete auf einen Märchenprinzen, der es wach küsste.

Das Buch an sich
So, nun aber zum Buch selbst. Wie so oft im Leben war es eine Mischung aus Beharrlichkeit und günstigen Synchronizitäten, die letztlich dazu führten, dass der lokale Papermoon-Verlag Interesse an dem Buchprojekt fand. Eine auf persönlichen Beziehungen beruhende Angelegenheit, was dazu führte, dass das Buch auch persönlich und persönlich Ansprechend geworden ist!

Geadelt wird das Buch zudem durch die Vorwörter zweier Tübinger Autoritäten. Professor em. Hermann Bausinger, Volkskundler und Germanist, der den Lehrstuhl für Empirische Kulturwissenschaft an der Universität Tübingen begründete und somit einen Meilenstein der Volkskunde in die Welt getragen hat. Einer seiner Forschungsschwerpunkte ist die Erzählforschung, und er ist Mitherausgeber "Enzyklopädie des Märchens".
Dr. Seddik Bibouche, ein persönlicher Freund der Familie, stammt aus derselben Gegend in Algerien und ist Sozialwissenschaftler mit einem starken Fokus auf Migrations- und Integrationsforschung und sehr viel Praxiserfahrung aus seiner Arbeit mit Kindern und Jugendlichen.

Die Vorworte an sich sind den Kauf des Buches schon wert, und sie adeln die Arbeit natürlich ganz erheblich mit ihrem wissenschaftlichen Wert.

Was ist also nun der "Mann, der nicht sterben wollte"? Nun, für den Sohn war diese Geschichte immer eine eher lustige, oder tragi-komische Angelegenheit. Denn das klassische Märchen vom "Mann, der nicht sterben wollte" ist für sich genommen kurz und kompakt, mit einem unerwarteten Ende. Erst bei näherer Betrachtung erkennt man die Weisheit in der Geschichte.

Die Idee des Vaters war es schon damals gewesen, ein Märchenbuch zu schreiben, dass anders ist als die üblichen Märchenbücher am Markt. Man kennt sie ja, die dicken Schinken mit "Märchen aus x, Märchen aus y", und in der Regel verstauben sie in den Regalen oder vermodern in Flohmarktkisten.

Natürlich besitzt der Vater selbst viele dieser Bücher, denn er geht auch gerne auf Entdeckungsreise in andere Kulturkreise, und ist immer wieder überrascht, wie universal die Märchen letztlich doch sind. Oder wie Professor Bausinger sagt: "Märchen sind Allgemeinbesitz; sie gehören niemandem."

Die Idee des Vaters war es nun gewesen, den Protagonisten, den "Mann, der nicht sterben wollte" auf eine längere Reise zu schicken. Ähnlich dem Dekameron (oder 1001 Nacht wohl eher...) dient die Titelgeschichte als Rahmenhandlung, in dessen Verlauf viele weitere Geschichten erzählt und erlebt werden. Der Leser begleitet den "Mann, der nicht sterben wollte" somit auf seiner Queste nach der Unsterblichkeit. Hier schlägt der Vater eine weitere Brücke über die Kulturen: waren die Kreuzritter, die Blut, Tod und Verderben in den arabischen Raum brachten, nicht auch in einer mythischen Dimension auf einer Queste nach Unsterblichkeit, nach dem Heiligen Gral? Nun, auch dieses Thema ist nicht Alleinbesitz eines Kulturkreises, sondern ist eben auch Thema dieses Märchens, wenn es hier auch nicht um einen Becher geht und religiöse Figuren keine Rolle spielen.

In den heutigen Zeiten, in denen der Sohn es oft hinderlich findet, dass seine Eltern ihm einen arabischen Namen gaben (damals, in den 70ern, als der Feind noch der Russe war), wird ihm immer wieder bewusst, wie grundlegend wichtig die Arbeit des Vaters ist. Neulich war er beim Sächsischen Märchenfestival und hat Kindern aus Sachsen die Welt des Orients näher gebracht. Fazit? Kinder kennen keinen Rassissmus. Sie sind offen, neugierig und können noch auf die Stimme des Herzens hören. Auch im Pegida-Land Sachsen. Sachen gibts.

Das Orient-Bild vieler Europäer ist leider verschoben. Das trifft leider aber auch auf hier lebende Migrantenkinder in der zweiten, dritten oder gar vierten Generation zu, denen die hiesigen Gesellschaften auf Grund von Aussehen oder Namen die Integration immer noch erschweren, und die zu romantisierenden Vorstellungen über die Kulturen der Länder ihrer Vorfahren neigen.

"Kommunikation, wenn sie richtig betrieben wird, führt zu Kommunion", sagte der Vater bereits vor vielen Jahren oft. Es ist das Wort, der Austausch des Wortes, das die Menschen verbindet. Wo schweigen herrscht, wird Ignoranz, Angst und letztlich Hass und Gewalt Tür und Tor geöffnet.

Wo wir kommunizieren, wirklich kommunizieren, wächst Verständnis. Wir sind ähnlicher, als uns bewusst ist, ähnlicher, als unsere Regierungen uns glauben machen. Unsere Geschichten sind universell wie die Märchen. Der "Lokalkolorit" mag anders sein, aber wir alle sind auf diesem Planeten auf Gedeih und Verderb einer Sache ausgeliefert: uns selbst.