29 November 2009

T.H. White: "Das Buch Merlin"




Das Buch Merlin: Das unveröffentlichte Fünfte Buch von 'Der König von Camelot'


Sehr lustige Lektüre. Fantasy von einem Zeitgenossen Tolkiens, jedoch in völlig anderem Stil.


Brite wie Tolkien, Kriegs-Trauma wie Tolkien (obwohl nie Soldat gewesen sondern nach Irland „desertiert“) bietet T.H. White eine überraschend philosophisch-politische Version von König Arturs letzter Nacht vor der Schicksalsschlacht mit seinem Sohn Mordred.


Fünfter Band der Reihe „The Once and Future King“ (aber ohne Vorwissen sehr gut zu lesen da inhaltlich nur bedingt verbunden), hatten Whites Verleger ihre Probleme mit der Veröffentlichung des Buches, weshalb es erst fast 10 Jahre nach dessen Tod in den 70er-Jahren in den USA veröffentlicht und ein sofortiger Bestseller wurde.


Merlin ist in diesem Band bereits sehr alt, und er besucht König Artus nach vielen vielen Jahren wieder. Er findet ihn in dessen Zelt auf dem Schlachtfeld an, niedergeschlagen, gebrochen, alt. Es bedarf einigen Geschicks, um den alten König zu motivieren, sich noch einmal mit Merlin auf eine Reise zu begeben.


In einem Dachsbau, umgeben von vielen Tieren (wohl alte Bekannte aus Arturs Kindheit aus dem ersten Band der Reihe) lernt Artur die Welt der Ameisen und Fluggänse kennen und gewinnt Abstand von seinen eigenen Problemen. Obwohl an der Welt, den Menschen, seinen Rittern und den Frauen verzweifelt, gelingt es Artur, eine philosophische Distanziertheit zu den Dingen zu gewinnen und die Welt trotz ihrer Schwächen wieder lieben zu lernen.


Sehr interessant ist auch das Nachwort über die Gestalt Merlins in den verschiedenen Varianten und Versionen.


Hier wurde mir klar, wie viele Parallelen das Leben Merlins mit dem Gründervater der japanischen Religion des Shugendô, En-no-Gyôja, hat (welcher Thema meiner inzwischen veröffentlichten Magisterarbeit ist).


Beide sind an der Welt und ihren Intrigen verzweifelt, freiwillig oder unfreiwillig in „Verbannung“ gegangen in die Welt der „Tiere“, in die Wälder.


Und erst indem sie die Wildheit der Natur und den harten Überlebenskampf dort hautnah erlebten, kehrten sie verwandelt in die Welt der Menschen zurück – ohne ihr je wieder völlig anzugehören. Von ihrem Leben in den (Berg)wäldern brachten sie ein instinktives Wissen und eine „Aura“ mit, die aus ihnen in den Augen der Normalsterblichen „Magier“ machte.


Merlin und En-no-Gyôja – beide waren sie Grenzgänger, verwilderte und gerade dadurch weise gewordene Menschen. Auch wenn Letzterer heute als Religionsgründer verehrt wird und Merlin das Reich der Legende nie verlies, so waren sie beide in ihren Intentionen und Taten nie bewusste Gründer von Religion, hatten nie eine Schule gegründet und nie Anhänger um sich geschart, maximal „Schüler“ angenommen.


Aber zurück zu Whites Roman:
„Das Buch Merlin“ kann man sehr schnell lesen, für den Schlußteil des Buches, einen halbwissenschaftlichen Aufsatz, braucht es etwas mehr Konzentration.


Ein schönes Beispiel für „anspruchsvolle“ Fantasy und v.a. dafür, dass Fantasy keinesfalls naive Billigliteratur für das geistige Prekariat ist, sondern verschiedene wichtige Funktionen erfüllt.


„Eskapismus“ ist hierbei ein gern zitiertes Wort, jedoch hat schon Tolkien in einer Vorlesung darauf hingewiesen, dass die „Flucht“, welche Fantasy dem Leser anbietet nicht „die Flucht des Deserteurs, sondern das Entkommen des Gefangenen“ darstellt.


Gefangen in einer Welt, welche an Imaginationsarmut leidet, in welcher die Menschen den Kontakt zur Natur verloren haben und – intellektuell stark – die imaginative, kreative, bildliche Seite ihres Seins verkümmert ist.


Märchen, Legenden und Sagen sind ja klassischerweise der Stoff, in welchem sich symbolhaft die psychologischen Unterströmungen des menschlichen Bewusstseins Ausdruck verschaffen. In einer Welt jedoch, in welcher die Menschen den Kontakt zu den Überlieferungen ihrer eigenen Traditionen verloren haben, oder in welcher die „Errungenschaften“ des Jetzt den Menschen vor gänzlich neue Herausforderungen stellen, tritt die Fantasy-Literatur an, den Wunsch des Einzelnen nach dem Fantastischen zu befriedigen. Die Sehnsucht nach „astralen“ Dingen und Wesenheiten, die Sehnsucht nach dem Glauben daran, dass unser Leben mehr ist als halb geordnete Zahlen und Statistiken, oberflächliche Befriedigungen bei innerlicher Leere – ist es da ein Wunder, dass die Fantasy im 20. Jahrhundert solch einen Boom erlebt hat?


T.H. White war seiner Zeit voraus, und es verwundert nicht, dass sein Werk in den 1970er-Jahren zu solch einem Erfolg wurde.


Einige Zitate, die mir besonders gefallen haben:


„Der Mensch, der stolzte Mensch steht im zwanzigsten Jahrhundert da und glaubt selbstgefällig, die Rasse habe sich im Laufe von elenden tausend Jahren entwickelt, während er gerade dabei ist, seine Brüder in Stücke zu zerfetzen. Wann werden sie lernen, dass es eine Million Jahre dauert, bis ein Vogel eine einzige Schwungfeder verändert hat? Da steht er, der blindwütige Tolpatsch, und tut, als sei alles anders geworden, weil er einen Verbrennungsmotor gebastelt hat. Da steht er, seit Darwin, weil er gehört hat, dass es so etwsa wie eine Evolution gibt. Ungeachtet der Tatsache, dass die Evolution in Millionen-Jahren-Zyklen geschieht, glaubt er, er habe sich seit dem Mittelalter entwickelt. Vielleicht hat sich der Verbrennungsmotor entwickelt, aber nicht er. Schaut ihn an, wie er sich über seine eigenen Ahnen lustig macht, ganz zu schweigen von anderen Säugetierarten… [...]. Und Gott nach seinem Bild zu schaffen! Glaubt mir, die sogenannten Primitiven, die Tiere als Götter verehrten, waren nicht so einfältig, wie die Leute uns glauben machen wollen. Zumindest waren sie demütig. Warum sollte Gott nicht als Regenwurm auf die Erde gekommen sein? Es gibt sehr viel mehr Würmer als Menschen, und sie tun sehr viel mehr Gutes. [...] Wenn die Natur sich je die Mühe machen sollte, den Menschen zu betrachten, diese kleine Scheußlichkeit, dann würde sie vor Schreck den Verstand verlieren.“


„Das Argument ist lediglich eine Entfaltung geistiger Gewalt, da wird mit Beweisgründen gefochten, um einen Sieg zu erreichen und nicht die Wahrheit. Meinungen sind die Sackgassen fauler oder dummer Menschen, die nicht denken können. Wenn je ein echter Politiker ein Thema wirklich leidenschaftslos durchdenkt, ist sogar Homo stultus gezwungen, seine Ergebnisse letzten Endes anzuerkennen. Die Meinung ist der Wahrheit nie gewachsen. Gegenwärtig gibt sich Homo impoliticusallerdings damit zufrieden, entweder mit Meinungen zu argumentieren oder mit seinen Fäusten zu kämpfen, statt auf die Wahrheit in seinem Kopf zu warten. Es wird noch eine Million Jahre dauern, bevor man die Masse der Menschen als politische Tiere bezeichnen kann.“


„Nach unseren Feststellungen setzen sich zur Zeit je hundert Vertreter der menschlichen Rasse politisch aus einem Weisen, neun Schurken und neunzig Toren zusammen. Das sind Feststellungen eines optimistischen Beobachters. Die neun Schurken versammeln sich unter dem Banner des Schurkischsten und werden „Politiker“; der Weise macht nicht mit, weil er weiss, dass er eine hoffnungslose Minderheit ist, und widmet sich der Poesie, der Mathematik oder der Philosophie; die neunzig Toren trotten derweil hinter den Fahnen der neun Schurken je nach Neigung in die Labyrinthe des Betrugs, der Bosheit und der Kriege. Sancho Panza hat festgestellt, es sei angenehm, auch nur eine Schafherde zu kommandieren, und deshalb erheben die Politiker ihre Banner. Darüber hinaus ist es für die Schafe gleichgültig, was auf dem Banner steht. Ist es Demokratie, dann werden die Schurken Abgeordnete; ist es Faschismus, werden sie Parteiführer; ist es Kommunismus, werden sie Kommissare. Nichts ist anders außer den Namen. Die Toren sind immer noch Toren, die Schurken immer noch Führer, das Ergebnis ist immer noch Ausbeutung.


Was den Weisen angeht, so ist sein Los unter jeder Ideologie so ziemlich das gleiche. In der Demokratie wird man ihn ermuntern, in einer Dachkammer zu verhungern, im Faschismus steckt man ihn in ein Konzentrationslager, im Kommunismus wird er liquidiert. Das ist eine optimistische, aber insgesamt wissenschaftliche Feststellung über die Gepflogenheiten des Homo impoliticus.“


„Selbst wenn die Kriege als Religionskriege aufgeputzt werden wie die Kreuzzüge gegen Saladin oder die Albigenser oder Montezuma, bleibt die Basis immer die gleiche. Niemand hätte sich die Mühe gemacht, die Segnungen des Christentums auf Montezuma auszudehnen, wenn er nicht goldene Sandalen gehabt hätte, und kein Mensch hätte das Gold an sich als hinlängliche Versuchung betrachtet, wenn sie nicht eine Dosis Adrenalin gebraucht hätten.“


„Das alte walisische Wort für „Geschichte“, „cyfarwyddyd“ bedeutet „Führung“, „Richtung“, „Unterweisung“, „Wissen“, „Geschicklichkeit“, „Rezept“. Es ist abgeleitet von „araydd“, was wiederumg heißt „Zeichen“, „Symbol“, „Manifestation“, „Omen“, „Wunder“ und kommt von der Wurzel des Wortes „sehen“. Der Geschichtenerzähler (cyfarwydd) war ursprünglich ein Seher und ein Lehrer, der die Seelen seiner Zuhörer durch die Welt des Geheimnisvollen führte.“ (aus: Alwyn Rees and Brinley Rees, Celtic Heritage, Ancient Tradition in Ireland and Wales)



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