22 September 2010

Milan Kundera: Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins ("Nesnesitelná Lehkost Bytí")








Ein Bekannter sagte mir einmal, für jedes Jahrzehnt gäbe es ein oder zwei Bücher, deren Lektüre einem den Geist jener Dekade erschliessen könnten. Für die '90er-Jahre seien dies "Trainspotting" und "American Psycho" gewesen: in dieser Reihenfolge gelesen würden sie den Leser mit auf die Reise nehmen von den depressiv-partydrogenbesessenen 80ern hinein in die 90er, welche von fanatischem Kapitalismus und Ultra-Liberalismus beherrscht wären.

Man kann durchaus geteilter Meinung darüber sein, ob diese beiden Bücher wirklich und wahrhaftig den "Geist der 90er" verkörpern (beide entsprechen nicht meiner persönlichen Erfahrung dieser Dekade), aber zumindest scheinen die in ihnen verarbeiteten Themen stilbildend für die weiße Oberschicht (und im Falle von "Trainspotting" diverse Randgruppen) in der sogenannten westlichen Hemisphäre gewesen zu sein.

Bei der Lektüre von Milan Kunderas "Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins" erinnerte ich mich an die Äußerung meines Bekannten und frage mich seither, ob dieser berühmteste Roman Kunderas wohl eine Art Schlüsselroman für das Verständnis der 1960er-Jahre - zumindest aus der Sicht und Empfindungswelt osteuropäischer Intellektueller - sein kann.

"Die unterträgliche Leichtigkeit des Seins" ist weniger ein klassischer "Roman", sondern erweckt, zumindest nach der Lektüre, eher den Eindruck eines geschriebenen Kunstfilms in schwarz-weiß, dessen Hauptdarsteller ständig filterlose Gitanes rauchen, vereinsamten Sex haben und Sartre lesen. Kein Wunder wurde der Roman ein erfolgreicher Kunstfilm.

Doch wie ist der Roman? Was für Themen beherrschen ihn, und welche Philosophie liegt ihm zu Grunde?

Zunächst einmal merkt man dem Buch an, dass es von einem Künstler im Exil geschrieben wurde, der auch in der Fremde seine unerreichbare Heimat nicht vergessen kann. Exil ist für mich das Hauptthema des Buches, jedoch eher das innere Exil, denn auch nach ihrer Rückkehr ins kommunistische Prag leben die beiden Hauptprotagonisten weiterhin "im Abseits", sind nicht Teil der Gesellschaft welche sie reflex- und impulsartig ablehnen.

Hauptprotagonisten sind der junge Chirurg Tomas und seine Geliebte Teresa, welche durch eine seltsame gegenseitige Abhängigkeit verbunden sind. Tomas braucht in seinem Leben ständig wechselnde Partnerinnen, weshalb er zwar mit Teresa zusammen lebt, diese aber ständig betrügt. Teresa wiederum hat ein gänzlich anderes Verständnis von Sexualität, welche sie sich ohne Liebe nicht vorstellen kann - diese unterschiedlichen Auffassungen von "Liebe" und "Sex" erzeugen einen Grundton, der sich durch den gesamten Roman zieht und das Leben beider Personen mit jener "Unerträglichkeit" erfüllt, die dann aber durch die nazisstisch anmutende In-Sich-Gekehrtheit eigentlich aller Hauptpersonen gleichzeitig auch eine aus Welt- und Realitätsflucht resultierende Leichtigkeit mit sich bringt.

Für mich am spannendsten war bei der Lektüre des Romans nicht die Rahmenhandlung, obwohl mir auch diese anschaulich zeigte, wie Intellektuelle jener Zeit wohl sich und andere gesehen haben müssen. Außerdem fand ich es erfrischend, einmal die Sicht von Intellektuellen aus einem kommunistischen Regime zu erfahren und deren Unverständnis gegenüber ihren westlichen Kollegen zu begreifen: "linkes" Auftreten im Verständnis westeuropäischer Eliten muss für Schriftsteller und Künstler aus Osteuropa in der Tat befremdlich gewirkt haben. Als Kind westdeutscher Erziehung war dies für mich ein Augenöffner.

Viel spannender als die Liebes- und Leidesreigen von Tomas und Teresa, aber auch von Sabina und den anderen waren für mich die philosophischen und weltanschaulichen Teile des Buches, welche Kundera mal dem einen, mal dem anderen seiner Charaktere in die Gedankengänge legte.

So schreibt er zum Thema "Körper und Seele" und die angeblich aufgeklärte Sichtweise modener Wissenschaft:

"Seit der Mensch alles an seinem Körper benennen kann, beunruhigt der Körper ihn weniger. Wir wissen auch, dass die Seele nichts anderes ist als die Tätigkeit der grauen Gehirnmasse. Die Dualität von Körper und Seele wurde in wissenschaftliche Begriffe gehüllt. Heute ist sie ein überholtes Vorurteil, und wir können fröhlich darüber lachen. Man braucht aber nur über beide Ohren verliebt zu sein und seine Därme rumoren zu hören, und schon zerrinnt die Einheit von Körper und Seele, diese lyrische Illusion des wissenschaftlichen Zeitalters."

Ausgehend von Tomas' trieb, ständig neue Sexpartnerinnen zu finden beschreibt Kundera :

"Männer, die einer Vielzahl von Frauen nachjagen, lassen sich leicht in zwei Kategorien einteilen. Die einen suchen in allen Frauen ihren eigenen, subjektiven und stets gleichen Traum von der Frau. Die anderen werden vom Verlangen getrieben, sich der unendlichen Buntheit der objektiven weiblichen Welt zu bemächtigen.

Die Besessenheit der einen ist lyrisch: sie suchen in den Frauen sich selbst, ihr Ideal, und sind immer von neuem enttäuscht, denn ein Ideal ist bekanntlich etwas, das man nie finden kann. Die Enttäuschung, die sie von einer Frau zur anderen treibt, verleiht ihrer Unbeständigkeit eine romantische Entschuldigung, so dass viele sentimentale Damen ihre hartnäckige Polygamie rührend finden.

Die Besessenheit der anderen ist episch, und darin sehen Frauen nichts Rührendes: der Mann projiziert kein subjektives Ideal auf die Frauen; daher interessiert ihn alles, und nichts kann ihn enttäuschen. Gerade diese Unfähigkeit, enttäuscht zu werden, hat etwas Ungehöriges an sich. Die Besessenheit des epischen Frauenhelden kommt einem billig vor, weil sie nicht durch Enttäuschung erkauft wurde."

Auch den Unterschied zwischen "Liebe" und blosser "Erregung" elaboriert Kundera anschaulich und verbindet diesen mit einer weiteren Hauptthematik des Buches: der Frage nach dem "Schicksal" im Gegensatz zur Auffassung der "Freiheit". Tomas findet seine Freiheit vor dem von einem Schöpfer festgelegten Schicksal, indem er Sex und Liebe trennt. Seine Liebe zu Teresa, die unabhängig und losgelöst von seinen sexuellen Eskapaden besteht und ihn im Inneren erfüllt ist seine Waffe gegen den gnadenlosen "Schöpfer". Indem Tomas sich dessen Vorschrift verweigert, Liebe mit Sex zu verknüpfen, erkämpft er sich sein Stück Freiheit vom Schicksal und von der Vorsehung.

"Die Liebe mit der Sexualität zu verbinden, war einer der bizarrsten Einfälle des Schöpfers. Die einzige Art und Weise, die Liebe vor der Dummheit der Sexualität zu bewahren, wäre, die Uhren in unseren Köpfen anders zu stellen und beim Anblick einer Schwalbe erregt zu sein."

Schließlich und endlich rechnet Kundera in diesem Buch auch mit dem christlichen Abendland als Solchem ab, seziert die unseren Kulturen zugrundeliegenden weltanschaulichen Stränge:

"Der Streit zwischen denen, die behaupten, die Welt sei von Gott erschaffen, und denen, die denken, sie sei von selbst entstanden, beruht auf etwas, das unsere Vernunft und unsere Erfahrung übersteigt. Sehr viel realer ist der Unteschied zwischen denjenigen, die am Sein zweifeln, so wie es dem Menschen gegeben wurde (wie und von wem auch immer), und denen, die vorbehaltlos mit ihm einverstanden sind.

Hinter allen europäischen Glaubensrichtungen, den religiösen wie den politischen, steht das erste Kapitel der Genesis, aus dem hervorgeht, dass die Welt so erschaffen wurde, wie sie sein sollte, dass das Sein gut und es daher richtig sei, dass der Mensch sich mehre. Nennen wir diesen grundlegenden Glauben das kategorische Einverständnis mit dem Sein.

Wurde noch vor kurzer Zeit das Wort Scheiße in Büchern durch Pünktchen ersetzt, so geschah das nicht aus moralischen Gründen. Sie wollen doch nicht etwa behaupten, Scheiße sei unmoralisch! Die Mißbilligung der Scheiße ist metaphysischer Natur. Der Moment der Defäkation ist der tägliche Beweis für die Unannehmbarkeit der Schöpfung. Entweder oder: entweder ist die Scheiße annehmbar (dann schließen Sie sich also nicht auf der Toilette ein!) oder aber wir sind als unannehmbare Wesen geschaffen worden.

Daraus geht hervor, dass das ästhetische Ideal des kategorischen Einverständnisses mit dem Sein eine Welt ist, in der die Scheiße verneint wird und alle so tun, als existiere sie nicht. Dieses ästhetische Ideal heißt Kitsch.

Es ist ein deutsches Wort, das mitten im sentimentalen neunzehnten Jahrhundert entstanden und in alle Sprachen eingegangen ist. Durch häufige Verwendung ist die ursprüngliche metaphysische Bedeutung verwischt worden: Kitsch ist die absolute Verneinung der Scheiße; im wörtlichen wie im übertragenen Sinne: Kitsch schließt alles aus seinem Blickwinkel aus, was an der menschlichen Existenz im wesentlichen unannehmbar ist."

Kunderas gesellschaftsphilosophische Ausflüge führen ihn letztlich zu einer umfassenden Kritik der abendländischen Kultur – egal ob diese nun kommunistisch, kapitalistisch oder christlich ist. In allen ihren Ausformungen nimmt er die metaphysische Kategorie des “Kitsches” wahr, der zur Folge hat, dass die Gesellschaften den wahren Bezug zum Leben verloren haben. Das Grundübel all dieser Ideologien ist seiner Auffassung nach das erste Buch Genesis und der göttliche Auftrag an die Menschen, fruchtbar zu sein und sich zu mehren, vor allem aber, sich die Welt Untertan zu machen.

Und der Ausweg? So unerträglich der Ist-Zustand unserer Kulturen dem Autor vorkommt, er ist nicht gänzlich ohne Hoffnung. Seine Protagonisten machen vor, was eine Lösung, ein Entkommen aus dem System sein kann. Zunächst sind das Exil, dann aber immer wiederkehrende Desillussionierungen, den auch am Zielort des Exilaten trifft dieser auf dieselben Grundmechanismen menschlichen Zusammenlebens. Ob in der kommunistischen CSSR oder in der freiheitlich-demokratischen Schweiz, überall sind die Menschen von der Natur und von sich selbst entfremdet. Überall zwingen politische, religiöse oder sonstige Normen das eigentlich freie Individuum dazu, sich anzupassen und selbst zu verleugnen.

Tomas und Teresa finden am Ende des Buches zumindest scheinbar einen Ausweg, nämlich die absolute “innere Emigration” auf das (kommunistische) “Land” – sie leben in einer Dorfgemeinschaft und schaffen es dort, eine halbwegs intakte Beziehung zu sich selbst, zueinander und zur Gesellschaft aufzubauen. Zwar sind sie auch hier Außenseiter (die Bäuerin versteht nicht wie Teresa so “verrückt” sein kann und ihr Herz an einen Hund hängt), doch scheinen die einfach gestrickten und eher unpolitischen Dorfbewohner mehr Offenheit gegenüber Fremden zu haben als die stets gestressten und von der Parti allzu direct kontrollierten Städter.

Kunderas Spekulationen gipfeln in einem Abschnitt, in dem er an Gandhis Worte anlehnt, der Fortschritt einer Gesellschaft liesse sich daran erkennen, wie diese mit den Tieren umgehe:

“Die wahre menschliche Güte kann sich in ihrer absoluten Reinheit und Freiheit nur denen gegenüber äußern, die keine Kraft darstellen. Die wahre moralische Prüfung der Menschheit, die elementarste Prüfung (die so tief im Innern verankert ist ,dass sie sich unserem Blick entzieht) äußert sich in der Beziehung der Menschen zu denen, die ihnen ausgeliefert sind: zu den Tieren. Und gerade hier ist es zum grundlegenden Versagen des Menschen gekommen, zu einem so grundlegenden Versagen, dass sich alle anderen aus ihm ableiten lassen.

Ein Kalb hatte sich Teresa genähert, war stehengeblieben und schaute sie mit seinen großen braunen Augen lange an. Teresa kannte es. Sie nannte es Marketa. Sie hätte gern allen Kälbern einen Namen gegeben, aber das ging nicht. Es waren zu viele. Vor langer Zeit einmal, und gewiss noch vor vierzig Jahren, hatten alle Kühe dieses Dorfes einen Namen. (Und weil der Name ein Zeichen der Seele ist, kann ich sagen, dass sie eine hatten, Descartes zum Trotz.) Aber dann hat man aus den Dörfern große Genossenschaften gemacht, und seitdem müssen die Kühe ihr Leben auf ihren zwei Quadratmetern in einem Stall verbringen. Sie haben keine Namen mehr und sind “machinae animatae” geworden. Die Welt hat Descartes recht gegeben.

Immer sehe ich Teresa vor mir, wie sie auf einem Baumstumpf sitzt, Karenins Kopf streichelt und an das Versagen der Menschheit denkt. Zugleich taucht ein anderes Bild auf: Nietzsche verlässt sein Hotel in Turin. Er sieht vor sich ein Pferd und einen Kutscher, der das Tier auspeitscht. Nietzsche geht auf das Pferd zu, schlingt ihm vor den Augen des Kutschers die Arme um den Hals und weint.

Das war im Jahre 1889, und Nietzsche war damals auch schon den Menschen entfremdet. Anders gesagt: eben zu dem Zeitpunkt war seine Geisteskrankheit ausgebrochen. Aber gerade deswegen, scheint mir, hat seine Geste eine weitreichende Bedeutung. Nietzsche war gekommen, um be idem Pferd für Descartes Abbitte zu leisten. Sein Wahn (sein Bruch mit der Menschheit also) beginnt in dem Moment, al ser um ein Pferd weint.

Und das ist der Nietzsche, den ich mag, genauso wie ich Teresa mag, auf deren Knien der Kopf des todkranken Hundes ruht. Ich sehe die beiden nebeneinander: beide weichen von der Straße ab, auf der die Menschheit als “Herr und Besitzer der Natur” vorwärtsmarschiert.”

Alles in allem ist Kunderas Buch ein Plädoyer für die Befreiung des Individuums aus gesellschaftlicher Konditionierung – selbst ein in den Augen der meisten Menschen als „wahnsinnig“ bezeichneter Gemütszustand ist jener Konditionierung noch vorzuziehen.

Einige der Protagonisten folgen einem persönlichen „Wahn“, der sie letztlich in den Ruin treibt, doch das Ziel zählt in Kunderas Welt nicht, was allein zählt ist der innere Zustand den man erreicht, wenn man seinen Weg findet und konsequent geht – egal wie rational oder verrückt man in den Augen der „Welt“ dasteht.

Mir scheint, es gibt für Kundera keine absolute Kategorie, auch Kategorien wie „Liebe“ oder „Wahrheit“ sind lediglich subjektive Variablen. Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins offenbart sich daher nicht jedem Menschen. Lediglich die von der Masse der Gesellschaft losgelösten, die ihren eigenen Weg suchen empfinden diese.

Geschrieben hat Kundera das Buch im Geiste des Prager Frühlings, allerdings fast 15 Jahre später im Pariser Exil. Ich frage mich ob dieses Buch, das damals wichtig und augenöffnend war, heute noch von Brisanz ist. Könnte es sein, dass wir inzwischen in einer Zeit leben, in der die damals singulären Erfahrungen zur Norm der breiten Masse geworden sind? Und falls ja, was sind die Konsequenzen?




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