28 November 2015

Hermann Hesse: Gesammelte Werke - Band 2 - Unterm Rad - Diesseits


Gesammelte Werke 2 - Unterm Rad - Diesseits
(werkausgabe edition suhrkamp, Gesammelte Werke in 12 Bänden, Auflage 1976)
I. Unterm Rad
"Es war etwas in ihm, etwas Wildes, Regelloses, Kulturloses, das musste erst zerbrochen werden, eine gefährliche Flamme, die musste erst gelöscht und ausgetreten werden. Der Mensch, wie ihn die Natur erschafft, ist etwas Unberechenbares, Undurchsichtiges, Gefährliches. Er ist ein von unbekanntem Berge herbrechender Strom und ist ein Urwald ohne Weg und Ordnung. Und wie ein Urwald gelichtet und gereinigt und gewaltsam eingeschränkt werden muss, so muss die Schule den natürlichen Menschen zerbrechen, besiegen und gewaltsam einschränken; ihre Aufgabe ist es, ihn nach obrigkeitlicherseits gebilligten Grundsätzen zu einem nützlichen Gliede der Gesellschaft zu machen und die Eigenschaften in ihm zu wecken, deren völlige Ausbildung alsdann die sorgfältige Zucht der Kaserne krönend beendigt."
 Unterm Rad - wer kennt diesen Roman nicht? Wer hatte ihn nicht als Schul(pflicht)lektüre verordnet bekommen? Wahrscheinlich einer der meistgelesenen Romane von Hermann Hesse. Und bei all meiner Liebe zum Autor - bis zu diesem Jahr hatte ich ihn nie gelesen. Angefangen ja (ich kam immer nur bis zur Aufnahmeprüfung in Stuttgart, dann wurde mir langweilig) aber niemals beendet.
Wie kommt es? Nun, zum Einen weil mich die Thematik zur "Hochzeit" meiner Hesse-Begeisterung nicht wirklich interessierte. Ich war angezogen von seinen späteren Werken, vom spirituellen "Siddhartha" (meinem ersten Hesse-Roman), vom seelenzerfleischenden "Steppenwolf", von der Selbstfindung im "Demian" und natürlich dem Widerstreit zwischen Wissen und Schönheit in "Narziss und Goldmund". Die "Morgenlandfahrt" war mir Parabel auf mein frühes Interesse an der Freimaurerei.
Den berühmtesten seiner frühen Romane (eben "Unterm Rad") sowie den krönenden Abschluss seines Lebenswerkes ("Das Glasperlenspiel") hatte ich jedoch nie gelesen (Letzteres auch heute noch nicht).
Doch zurück zum Gegenstand dieses kleinen Aufsatzes. Unterm Rad. Mir war seit meinem ersten Semester Japanologie auch oft gesagt worden, dass "alle" Japaner Hesse wegen dieses Romans kennen, und das wundert mich nicht, dürfte sich doch so ziemlich jeder Japanische Schüler in der Person des Protagonisten, des Kindes Hans Giebenrath, wiedererkennen. 
Ein "Wunderkind" aus dem schwäbischen Teil des Schwarzwaldes (Calw), schafft er es als einziger Sohn seiner Stadt in Jahren, auf das renommierte Kolleg zu kommen, in welchem die schwäbischen Priester seit Generationen ausgebildet werden. Ins Kloster Maulbronn muss er also, und dort findet er heraus, dass er zwar der hellste Kopf in Calw war, hier aber die hellsten Köpfe des Landes versammelt sind und er jetzt nicht mehr der "Big Fish" im kleinen Dorfteich ist.
Seine Freundschaft mit dem emotional instabilen Künstler Hermann Heiler (klarer Hermann-Hesse Alter-Ego) wird dem armen Giebenrath zum Verhängnis - die beiden ungleichen Buben verbindet rasch eine Freundschaft griechischen Ausmaßes, und die schulischen (und geistigen) Leistungen von Hans lassen schnell und spürbar nach. Der Erfolgsdruck macht ihn zudem krank, und so wird der anfangs als "Geheimtipp" gehandelte Musterschüler binnen eines Jahres zur Enttäuschung der Schule und seiner Heimatstadt - und nach Hause zu seinem Philistervater geschickt.

Zurück in Calw bleibt dem armen "drop out" nichts anderes übrig, als eine Handwerkerlehre anzufangen, was dem hoch geistigen Buben jedoch physisch schwer fällt.

Der Roman endet erwartet tragisch und unerwartet abrupt - ich kann nicht umhin, dass ich den Roman (oder die Novelle?) enttäuscht und mit einem bitteren Beigeschmack zur Seite legte.

Kerngedanken zu "Unterm Rad":

Eine Schlüsselszene der Geschichte ist eine Standpauke von Hans Giebenrath im Büro des "Ephorus" (Schulleiters) von Maulbronn. Durch den ständigen Druck, die daraus folgenden Kopfschmerzen und Erschöpfungszustände von Hans Giebenrath und auch durch die Freundschaft mit Hermann Heiler hat Hans - einst der "beste Hebräiker der Schule" im Hebräischen einen ständigen Leistungsabfall gezeigt. Zunächst väterlich-freundschaftlich erkundigt sich der Ephorus nach den Gründen, probt hier und da, empfiehlt, "nicht nachzulassen", sonst "käme man unters Rad" und wird dann - ganz Inspektor-Columbo-mässig - gegen Ende der Sitzung sehr unväterlich und fordernd, verbietet Hans quasi weiteren Umgang mit Hermann und setzt ihn so noch mehr unter Druck. In der Folge zerbricht der Junge auch Stück für Stück an der "Gesamtsituation".

Für mich faszinierend an dem Roman war, dass ich es hier wahrhaft mit einer "first hand study" der Zustände an einer schwäbischen Eliteschule gegen Ende des 19. Jahrhunderts zu tun hatte. Der preußische Einfluss ist klar - Untertanenmentalität und Gehorsam, ja Fügsamkeit vor der Obrigkeit, sei sie religiös oder staatlich, sind hier die Tugenden, nach denen die "rohen, wildwüchsigen" Jünglinge hin erzogen werden müssen. Der Schritt zu den blinden, jubelnden jugendlichen Soldaten, die im Ersten Weltkrieg Lieder schmetternd an die Front gefahren sind um für Kaiser und Heimat jämmerlich zu krepieren ist hier klar vorgezeichnet.
Für mich als im Schwäbischen aufgewachsenes Kind der 70er-Jahre war dies auch eine Lektion, wie die Schwaben so gar nicht so anders waren als die Preußen. 

Die "Leistungsgesellschaft" von heute war schon damals, zumindest in den Elite-Kreisen, ab- und vorgezeichnet. Max Weber hat die "protestantische Ethik" für den Aufstieg des Kapitalismus und den Erfolg der USA zitiert, und hier kann man aus erster Hand lernen, wie die Mentalität der Pietisten diese Ethik "in natura" lebte (Hesses Eltern waren strenge, pietistische Missionare, die es dem jungen Hermann nie verziehen hatten, dass er Dichter, und somit ein für den Herrn und die Kirche verlorener Sohn, wurde).

Nun bin ich keinesfalls antiautoritär erzogen worden, aber wenn man "Unterm Rad" als Studie über die Erziehung meiner Großelterngeneration liest, wird klar, warum meine Elterngeneration zu diesen neuen, radikalen Erziehungsmethoden neigte. Das Pendel schwingt wohl immer erst in Extremen, bevor es sich dann - wenn alles gut läuft - beruhigt.

II. Diesseits
Diese Sammlung an Erzählungen sagte mir im Unterschied zu "Unterm Rad" vor dem Lesen überhaupt nichts. Ich hätte nicht einmal sagen können, dass Hermann Hesse überhaupt solche Erzählungen verfasst hätte.

Nun, circa zwei Monate nach dem ersten Lesen der Geschichten bleiben bei mir nur Versatzstücke haften. Es sind fast allesamt Geschichten aus der Jugend von jeweils unbekannten Protagonisten, aber überall sieht man, dass es um biographische Elemente geht.
In der "Marmorsäge" geht es um eine unglückliche Liebe, die tragisch endet, und an der Hesse wieder einmal exemplarisch die gesellschaftlichen Zwänge der Klein- und Kleinstbürger auf dem Lande darstellt.
"Aus Kindertagen" berichtet genau von solchen, und der ersten Erfahrung des Protagonisten mit dem Tod, der einen etwas älteren Buben nach langer Krankheit ereilt.
"Eine Fussreise im Herbst" ist eine fast mystische Rückreise in die späte Jugend und zur ersten, längst verheirateten Jugendliebe, die melodramatisch mit einem meiner Lieblingsgedichte Hesses endet: "Im Nebel".
"Der Lateinschüler" wiederum spielt mit der ersten Liebe und dem "Leben lernen" eines Jünglings, der zum ersten Mal ein eigenes Zimmer fern der Heimat bewohnt. 
"Heumond" ist eine Variation der Geschichte der ersten Liebe, ist "Sturm und Drang" im kleinbürgerlichen Gewande, kommt sehr unschuldig und ohne große Dramen daher, schildert aber im Detail die Veränderungen der Wahrnehmung und des Empfindens, die mit dem "Erwachsen werden" einhergehen und zeigt, welch feines seelisches Gespür Hesse hatte.
"Schön ist die Jugend" ist die Geschichte eines jungen Mannes, der nach einigen Jahren im Beruf und in der Fremde zum ersten Mal und über den ganzen Sommer hinweg wieder ins kleinstädtische Zuhause kommt. Sehr zärtlich erfühlt man hier, was Heim- und Fernweh bedeuten und wie der einmal Ausgewanderte es nimmer schafft, in der einstigen Heimat wieder Fuß zu fassen. Diese Geschichte fand ich am Schwierigsten zu lesen, denn in ihr fand ich viel persönliches und schmerzhaftes - Gefühle, die ich im Alltag versuche, zu unterdrücken.
"Der Zyklon" schließlich erzählt die Geschichte eines "ehemaligen Buben", der nun als junger Mann symbolisch an einem Tag, an dem ein schwerer Sturm seine Heimatstadt beschädigt und vielerorts für immer verändert, lernt, dass die Tür zu seiner Jugend und Kindheit für ihn von nun an für immer verschlossen ist.
"In der alten Sonne" schließlich ist die seltsamste Geschichte von allen. Hier ist Hesse als "Alter Ego" oder gar Protagonist meiner Ansicht nach gar nicht vorhanden. Hier geht es um eine ehemalige Gaststätte, die nun als eine Art sozialer Unterkunft für mittellos gewordene alte Männer dient, und von den teils tragischen, teils idiotischen "Abenteuern" einiger ihrer Bewohner handelt. Eine Geschichte, die irgendwie nicht in das Gesamtbild der Sammlung passen will.

Fazit:
Alles in allem fand ich das Lesen von "Diesseits" teilweise unterhaltsam, aber stets auch mühsam. Teilweise, weil manche Geschichten mich dann doch auch sehr nostalgisch und melancholisch stimmten, teilweise weil es mir schwer fiel, mich auf die Charaktere und das allgemeine "Setting" einzulassen. Als Gesamtwerk betrachtet erscheint es mir, Hesse hätte sich hier von James Joyce beinflussen lassen, denn die Geschichten fangen tendenziell in der früheren Kindheit und Jugend an, enden dann aber im Alter, ganz so wie in Joyces "The Dubliners".

Wer aus dem Schwarzwald oder dem Schwäbischen stammt, der findet hier sicherlich Versatzstücke aus der Heimat wieder, für alle anderen dürfte die Lektüre von "Diesseits" eher karge Kost sein, quasi "für Fans" des Autors.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen