01 Januar 2016

Rückblick - Meine einzige "veröffentlichte" Geschichte: "Der Weltenwanderer"

Im Herbst 1997, ich war Zivildienstleistender im Altenpflegeheim, nahm ich an einem Autoren-Preisausschreiben Teil. Veranstaltet wurde es vom damaligen Pop- und Jugendradio des Süddeutschen Rundfunkts, SDR3, in deren Magazin "Wilder Süden", und der Abteilung "Hobbit Presse" des Stuttgarter Verlagshauses Klett-Cotta.

Gesucht wurde der "wildeste Autor im Süden": "Wir suchen phantastische, kreative Schriftsteller zur Erschaffung der ultimativen, epochalen, wildsüdlichen Fantasy-Geschichte."

Die Story durfte maximal über vier Seiten gehen, und es gab 30 Preise zu gewinnen. Einzige Vorgabe war es, den einleitenden Absatz als Startpunkt der Geschichte zu nehmen.

Vorab: ich habe damals den zweiten Platz gewonnen, ein erstes Anzeichen dafür, dass meine Träume, eines Tages ein "richtiger" Autor zu werden, nicht ganz an den Haaren herbeigezogen waren. Leider habe ich mich seitdem nicht wieder aufgerafft, ernsthaft zu Schreiben - angefangene Romanvorlagen liegen seit fast 20 Jahren in der Schublade, immer war "das Leben" wichtiger: das Studium, der Beruf.... andere Dinge eben.

Da ich die Geschichte nie "digital" festgehalten hatte, hier nun also die volle Story, die mir den glorreichen 2. Platz eingebracht hatte...

Die Preise übrigens scheinen ganz generell mein Schicksal wiederzuspiegeln.
Der erste Platz war eine Reise nach Oxford "auf den Spuren von J.R.R. Tolkien" gewesen.
Der dritte Platz "ein delikates Abendessen mit den Machern der Hobbit Presse" (also eigentlich noch besser als der erste Preis).

Ich hab wie gesagt den zweiten Preis gewonnen.... einen Besuch der Bavaria-Filmstudios in München. #fml

Der Weltenwanderer


[Erster Satz: Vorgabe der Veranstalter] Lange vor der Entstehung des homo wildsüdlicus, als das Nichts und der ewige Sturm die Erdoberfläche beherrschten, spielte sich das Leben ausschließlich in den Tiefen der Ozeane ab, im Innern des ewigen Eises und der Dunkelheit des Erdreiches. Drei verschiedenen Populationen gelang es, sich den widrigen Lebensumständen anzupassen...

Grolgorosch lehnte sich erschöpft gegen den Felsvorsprung. Er war nun schon etliche Stunden ohne Rast marschiert, um Draltal, sein geliebtes Heimatdorf, noch rechtzeitig vor der Kalten Welle zu erreichen. Schweißperlen standen an seiner Stirn, die, obschon er noch ein junger Gnomling war, schon etliche Denkfalten aufwies. Schweißgenäßt war auch sein langer, schwarzer Bart, den er regelmäßig von den ersten grauen Haaren befreite. Er war einfach nicht dazu bestimmt, wie die meisten seines Volkes vom Abbau der Salzkristalle zu leben, auch wenn sie die wichtigste und gesündeste Nahrung darstellten, die es für einen Gnomling nun einmal gab.
Grolgorosch war schon immer ein Träumer gewesen, der seine Zeit lieber dichtend und denkend, musizierend und mit dem Genuß eines Bieres, daß aus speziellen Pilzen gebraut wurde, verbrachte, als mit einer "anständigen Arbeit". Er wußte, Rilka war deshalb oft unglücklich, behauptete, er liebe sie nicht, da er kein guter Arbeiter und Ernährer sei. Ihre Tränen schmerzten ihn oft sehr, aber er konnte sich trotzdem nicht untreu werden und ein geregeltes Gnomlingleben führen. Um ihren Tränen, ihrer Wut und - vor allem - dem Spott der anderen Draltaler zu entgehen, hatte sich Grolgorosch schon in den ersten Jahren ihrer Ehe zu einem Vagabunden entwickelt. Er schlug nur soviel Salzkristalle, wie zum Überleben unbedingt notwendig waren, zollte auch dem König im fernen Finsterstein regelmäßig Tribut. Den Rest seiner Zeit verbrachte er mit langen Wanderungen im umliegenden Geröllwald, ja, manchmal hatte er sich sogar bis in die gefürchteten Wasserhöhlen vorgewagt. Die Legenden und Schauermärchen seines Volkes erzählten von furchtbaren Ungeheuern, die in diesen Höhlen hausen sollten, und auf deren Speiseplan an erster Stelle Gnomlinge standen. Grolgorosch wußte, daß sie irrten. Schließlich hatte er jene "Monstren" schon gesehen: wunderschöne, anmutige, glitzernde Wesen, mit hellen Stimmen wie gurgelndes Wasser und bezauberndem Gelächter. Sie lebten in den Meeren, und nur manchmal tauchten sie in einer der Höhlen auf, um einen neugierigen Blick auf die ihnen so fremde Welt aus Stein zu werfen, die für Grolgorosch die Heimat darstellte.
Vor einiger Zeit hatte er sich einer dieser Wasserfrauen - einem ganz besonders hübschen Exemplar mit wassergrünen Augen und einem in vielen Farben funkelnden Fischleib - zu erkennen gegeben. Zuerst war sie erschrocken, aber bald merkte sie, daß von ihm keine Gefahr ausging, und so waren sie sich schließlich näher gekommen. Oft saßen sie nur stundenlang beisammen, ohne ein Wort zu sprechen, jeder Gefangener in des andern Blick. Dann wiederum vergnügten sie sich scheinbare Ewigkeiten lang beim Liebesspiel, um sich schließlich ermattet und selig wieder zu trennen. Es gab auch Zeiten, in denen sie in ernsten Gesprächen über das Leben in den verschiedenen Welten sprachen - und über die Kalten. Scylla - so hieß die Schönheit aus den Wassern - berichtete oft vom großen Unheil, daß die Kalten auch in ihrer Welt anrichteten. Grolgorosch ahnte in solchen Momenten am Schrecken in Scyllas Augen erkennen zu können, wie arg ihr Wüten auch im Reich des Wassers war. Auch er kannte die unheiligen Taten, die jene Namenlosen anzurichten imstande waren. Es geschah nicht selten, da fand man einen Gnomling, der bei der Arbeit die Zeit vergessen hatte, grausig erfroren in einem Stollen liegen. Die Kalten waren unberechenbar und unbarmherzig. Sie kamen mit der Kalten Stunde, wenn die Pforten nach oben sich öffneten und der Wind der Kälte hinabfuhr von der Hölle in die Welt. Nur im Schutz ihrer Felswürfel waren die Gnomlinge sicher vor der eisigen Hand des Todes. Dies war nicht immer so gewesen...

Grolgorosch erinnerte sich an eine Legende, die sich die Ältesten der Alten seit undenkbaren Zeiten erzählten, und die er selbst von seiner Großmutter gehört hatte, als er noch ein Kleinling gewesen war. Die Geschichte erzählte von einer Zeit, als es noch keine Kalten gab. Wenn sich in jenen Tagen die Pforten nach oben öffneten, dann brachten sie wohlriechende Düfte und lachende Luftelfen. Damals soll es auch einen großen See aus Feuer und flüssigem Stein gegeben haben, weit im Süden, wo keine Salzkristalle wachsen. Es hieß, der Feuersee sei beheizt worden vom heißen Atem eines gigantischen Drachen. Es hieß auch, daß der Feuersee von schwarzgelb schillernden Schwefelechsen bewohnt gewesen war, die blitzschnell und sehr heiß (aber gutmütig) gewesen sein sollen. Der Drache begnügte sich damit, den Feuersee mit seinem Flammenatem warmzuhalten, unter der Bedingung, daß er aus jedem Königreich - dem der Gnomlinge, dem der Wassernixen und dem Luftelfen und seinem eigenen, dem Feuersee - in regelmäßigen Abständen ein Opfer zur Nahrung erhielt. Ansonsten würde er, so drohte er allen Völkern, den See erkalten lassen und blutige Ernte halten.

Lange Zeit blieben die Dinge so in ihrer natürlichen Ordnung: der Drache war fern und ruhig, und jedes Volk ließ viermal im Jahr das Los darüber entscheiden, wer sich zum Wohle aller in die Arme des heißen Todes zu begeben hatte. Bis das Los auf die Tochter des Tentosis, des Königs der Meere, fiel. Obwohl seine Tochter bereit war, den Preis für die Freiheit zu zahlen, wehrte sich ihr Vater erbittert gegen dieses Schicksal. Denn seine Tochter war sein Augapfel, sein ein und alles: um nichts in der Welt würde er sie opfern! Und so schmiedete er einen finstren Plan. Er nahm Kontakt auf mit den unheiligen Kalten, seelenlosen Wesen aus den Eishöhlen des Nordens. Diese finsteren Kreaturen waren bereit, einen Pakt mit König Tentosis zu schließen und ihm zu helfen, den Drachen zu töten. Mit einem Speer aus magischem Eis erlegte Tentosis den Feuerwurm.

Alle Völker unter der Erde feierten diesen Tag als Tag der Erlösung - nie wieder würde einer ihrer Geliebten den feurigen Tod sterben müssen. Doch das Erlöschen des Drachenfeuers hatte andere Folgen. Zuerst bekamen es die Schwefelechsen zu spüren. Der Feuersee fing an, zu erkalten, und das Magma erstarrte zu hartem Lavagestein. Innerhalb kürzester Zeit fanden Tausende von Echsen den Tod. Bald spürten auch die anderen Völker, daß die Tat des Tentosis nicht ohne Folgen bleiben sollte: da der Drache die einzige Wärmequelle gewesen war, erkalteten alle Reiche nach und nach. Die Luft an der Erdoberfläche konnte sich nicht mehr wehren gegen die Kälte der Äußeren Hölle - dieser Kälte fielen die Luftelfen zum Opfer. Das Reich der Wassernixen verwandelte sich mehr und mehr in Eis - zuerst fielen die Polarmeere des Nordens und Südens in die Hände der Kalten, schließlich schrumpften die weitläufigen Ozeane immer mehr zusammen, bis sie auf die jetzige Größe geschwunden waren. Und im Reich der Gnomlinge fielen viele den eisigen Luftattacken zum Opfer, die von einer finsteren Magie gesteuert wurden. Im Laufe der Zeit hatten sich die Gnomlinge mehr und mehr vom Rest der Welt isoliert. Die Luftelfen gerieten nach ihrem Aussterben rasch in Vergessenheit, ebenso die Schwefelechsen. Den Wassernixen haftete die schuldhafte Tat ihre Königs an - die Gnomlinge begegneten ihnen erst feindselig, um ihnen dann ganz aus dem Weg zu gehen. Heute gab es nur noch Gerüchte über die Ungeheuer aus den Wassern.

Doch im Moment hatte Grolgorosch andere Sorgen. Nach einem Besuch in den Wasserhöhlen (und einem Treffen mit Scylla), hatte er sich aufgemacht in die südlichen Regionen des Erdreiches. Dort wollte er Ausschau halten nach Spuren des längst erkalteten Feuersees... wer weiß, vielleicht fand er sogar Überreste des Drachen? Nach stundenlangem Umherirren in den weitläufigen Höhlen wurde sich Grolgorosch schlagartig der Zeit bewußt. "Verflixt und eingestürzt! Wenn ich es nicht rechtzeitig nach Draltal schaffe, wird es mich im wahrsten Sinne des Wortes eiskalt erwischen!" Erschrocken fuhr er sich mit der Hand vor den Mund: es war sonst nicht seine Art, Selbstgespräche zu führen. Die Tatsache, daß er dies nun tat, verhieß nichts Gutes. Er war nun schon seit Stunden durch die Südhöhlen gelaufen, und erst jetzt gestand er sich ein, was er eigentlich schon längst wußte, jedoch stets verdrängt hatte: er hatte sich verlaufen. Ja, so einfach und banal diese Feststellung auch klang, so hart traf sie trotzdem - oder gerade deshalb - sein Ehrgefühl: ER, Grolgorosch, Sohn des Gringolaf, Wanderer zwischen den Welten, Entdecker fremder Wesen, hatte einen so törichten Fehler begangen! Wenn das seine Freunde aus Draltal wüßten! Beschämt wie ein dummer Kleinling müßte er vor ihnen in den Boden versinken, nur Spott und Belehrungen erntend. Aber so sehr er auch mit dem Schicksal haderte - daran gab es nichts zu ändern! Und so langsam war es ihm egal, ein "sehr blamierter" Gnomling zu sein, dachte er nur an die möglichen Folgen: wenn er es nicht schaffte, vor der Kalten Stunde Draltal und seinen sicheren Wohnfelsen zu erreichen, dann würden ihn die Kalten Geister der Luft mit tödlicher Sicherheit in einen "sehr toten" Gnomling verwandeln - was allemal schlimmer war.

Grolgorosch erhob sich langsam vom Felsvorsprung, auf dem er einige Zeit gerastet hatte, um wieder einigermaßen zu Kräften zu kommen und sich auch seelisch wieder etwas zu beruhigen. Der grauschwarze Felsen war von roten Adern durchzogen und strahlte eine angenehme Wärme aus. "Eigentlich seltsam!", dachte er. "Obwohl der Drache schon seit langem tot ist, gibt es immer noch Wärme, tief im Erdreich!" Vielleicht waren jene Geschichten wahr, die von einem anderen Drachen erzählten, der weit im innersten Erdring wohnte und dort vielen Völkern ein glückliches Leben ohne Angst vor den Kalten ermöglichte. Bisher hatte er diese Geschichten immer für Märchen gehalten, aber seit seiner Begegnung mit Scylla war er sich dessen nicht mehr so sicher... und nun, hier, ohne jegliche Orientierung und mit den Kalten im Nacken, erschienen sie ihm wahrer und wahrscheinlicher zu sein denn je. "Die Angst ist die Mutter des Glaubens" besagte eine alte Gnomling-Weisheit (von denen es eine Menge gab), und in diesen Augenblicken bewahrheitete sie sich aufs Deutlichste.

Der schwarzrote Felsen ragte in eine große Felsenhalle hinein. Hinter Grolgorosch lag wie ein dunkles Loch der Gang, durch den er gekommen war. Der Weg endete abrupt an diesem Felsvorsprung. Vor sich blickte er hinab auf eine Höhle, die selbst für einen Gnomling schlichtweg gigantisch war. Eigentlich handelte es sich um eine Art Felsendom. Und tatsächlich schien der Ort eine gewisse Heiligkeit auszustrahlen. Seine Wände waren alle in jenem matten Schwarz gehalten, von roten Adern durchzogen. Rund war dieser große Dom, und seine Wände liefen oben in einer spitzen Kuppel zusammen. Erst nach einiger Zeit wurde sich Grolgorosch der Tatsache bewußt, daß er seit mindestens einer viertel Stunde mit offenem Mund auf den sich ihm darbietenden Raum starrte. Sein Felsvorsprung befand sich auf halber Höhe zwischen der Kuppel und dem Boden. Und dann fiel ihm auf, daß es noch mehrere solcher Felsvorsprünge gab, die, auf gleicher Höhe gelegen, alle in den Felsendom hinein führten. Er zählte insgesat zwölf solcher Gänge, seinen mitgerechnet. Durch die symmetrische Architektur des Domes neugierig geworden, beschloß Grolgorosch, der Sache auf den Grund zu gehen. Schließlich wirkte diese Halle zu perfekt, zu konstruiert, um eine Laune der Natur zu sein. Außerdem nahm er der dunklen Farbe des Felsens wegen den Boden nicht genau wahr. So geschah es, daß er die Kalten total vergaß, und mit dem Abstieg begann.

Dies war kein leichtes Unterfangen, da die Wände lange nicht so rauh waren wie die Wände in Grolgoroschs Heimat. Zudem strahlten sie eine Wärme aus, die ihm fremd war. In Draltal und Umgebung waren die Felsen viel kälter. Doch er war ein geschickter Kletterer, und so kam er schließlich unbeschadet auf dem Boden der Höhle an. Seltsam war, daß der Boden noch glatter war als die Wände, er wirkte irgendwie poliert. Dies war dann wohl der endgültige Beweis, daß diese Höhle von intelligenten Wesen bearbeitet, wenn nicht sogar ganz aus dem Stein gehauen worden war. Doch wer konnte das gewesen sein? Er konnte sich nicht erinnern, jemals so beeindruckende Gnomlingsarbeit gesehen zu haben. Auch wenn die Gnomlinge stolz waren auf ihre Baukünste - ihre Bauwerke waren vielleicht schmuckvoll und gemütlich - aber niemals so majestätisch und kolossal. Er blickte sich in der riesigen Halle um. Hier unten schien es keinen Ausgang zu geben, nur Felswände. Seine Schritte hallten laut in der großen Halle. Er stieß einen begeisterten Pfiff aus. Gleich danach bereute er dies - das Echo war einfach unheimlich. Vielfach hallte es von den Wänden ab, um sich allmählich in einen seltsamen, pfeifenden Ton zu verwandeln... der ihm irgendwie bekannt vorkam! Er lauschte aufmerksam in die Höhe. Nein, das war nicht mehr das Echo seines Pfiffs... dies war das sirrende Pfeifen der Kalten! Sie kamen, und sie kamen näher, das konnte er genau hören. Panik ergriff ihn, als er sich der Tatsache bewußt wurde, daß er die Kalten total vergessen hatte... und das wegen einer blöden Höhle!

Verzweifelt rannte er durch die Halle... irgendwo mußte es doch einen verflixten Ausweg geben! Aber nichts zu machen... es gab - bis auf die zwölf Felsvorsprünge in zirka zehn Metern Höhe - keine weiteren Ausgänge... und von dort oben kam das Pfeifen! Es wurde lauter und lauter, und zum ersten Mal in seinem Leben sah Grolgorosch, was er sonst nur im Schutz seines Felswürfels gehört hatte: die Kalten. In seiner Vorstellung waren es immer große Wesen aus Eis gewesen, die auf magische Art und Weise durch die Lüfte schweben konnten... seine Phantasie hatte ihnen Klauen, rotglühende Augen und reihenweise scharfe Zähne angedichtet... aber die Wirklichkeit war natürlich ganz anders. Wenn auch nicht besser. Bis auf das Pfeifen schienen sie lautlos durch die Lüfte zu gleiten. Er konnte keine genauen Formen erkennen, vielmehr schwebten sie wie kalter Rauch durch die Luft. Es war gerade dieses gestalt- und namenlose Wesen, das ihn in Angst und Schrecken versetzte. Solche Wesen glichen nichts, daß er jemals gesehen hatte. Folglich war es sehr wahrscheinlich, daß sie auch keine Empfindungen, wie Gnomlinge sie haben, kannten. Sie waren verdichteter Schrecken, sichtbar gewordener Tod, hörbares Grausen... und sie kannten keine Gnade. Grolgorosch machte sich auf seinen Tod gefaßt. Verzweifelt kauerte er sich gegen eine Wand, verbarg sein Gesicht in den Händen, und wartete auf sein Ende. Doch statt der erwarteten kalten Berührung, statt eines quälenden Schmerzens, geschah - nichts. Das Pfeifen blieb im Raum, schwoll sogar noch an, immer mehr der Kalten versammelten sich in der Halle. Aber sie kümmerten sich nicht um ihn. Verwundert hob er seinen Blick und versuchte zu begreifen, was er da sah. Exakt in der Mitte der Halle, also in der Luft, hatten sich Dutzende dieser unheiligen Dampfwesen versammelt. Sie schwebten teilweise durcheinander, es schien so, als könnten sie sich gegenseitig durchdringen. Doch was auch immer sie hier taten - ihr Interesse galt nicht ihm. Und dann begriff er.

Dank seiner dunklen Haut verschmolz er quasi mit den ihn umgebenden Felsen. Falls also einer der Kalten herab auf den Boden des Felsendomes blicken sollte, so würde er ihn gar nicht wahrnehmen. Und noch etwas schoß ihm durch den Kopf: dieser schwarze Fels strahlte Wärme aus. Die Felsen in seiner Heimat waren kalt. Vielleicht hatten die Kalten gar keine Sehkraft, wie Gnomlinge sie kennen. Vielleicht nahmen sie nur die Wärme einer Kreatur war. Und inmitten des warmen Felsgesteins konnten sie ihn einfach nicht... herausspüren. Grolgorosch beschloß, dies zu testen. Er stand auf und lief auf dem Boden der Halle herum. Nichts passierte. Die Kalten schwebten weiterhin in der Mitte der Halle, so als hätten sie ihn gar nicht wahrgenommen. Fast hätte er losgelacht vor Stolz auf seine Entdeckung. Nicht nur, daß er der erste Gnomling der Geschichte war, der die Kalten gesehen und überlebt hatte - er hatte auch noch herausgefunden, wie sie ihre Opfer erkennen. Im letzten Moment verkniff er sich den Lacher, als ihm einfiel, daß er ja trotzdem noch inmitten einer todbringenden Gefahr war - die zwar nicht gut sehen, vielleicht jedoch hören konnte. Eine Veränderung im Pfeifen der Kalten lies ihn erneut nach oben schauen. Das Geräusch schwoll an, bis es fast die Schmerzgrenze erreicht hatte, um dann in einem lauten Knall zu explodieren. Und mit diesem Knall stoben die Kalten auseinander - jeweils in einen der zwölf Ausgänge. Kurz darauf waren sie verschwunden, und mit ihnen schließlich auch das Geräusch. Was zum Felsenbeißer war hier geschehen? War dies eine Art Versammlungsstätte der Kalten? Starteten sie von hier aus ihre blutigen Feldzüge? Fragen über Fragen... aber Grolgorosch war vorerst zufrieden, noch am Leben zu sein. Jetzt hieß es nachdenken. Einerseits hatte er noch genügend Salzkristalle im Beutel, um tagelang durch unbekannte Regionen zu streifen und vielleicht noch mehr über das Treiben der Kalten herauszufinden. Außerdem hatte er nun ja eine Art sicheren Außenposten, der es ihm erlaubte, auch zur Stunde der Kalten fern von Draltal zu weilen. Andererseits wußte er immer noch nicht, wo er genau war, wo Draltal von hier aus lag. Er bereute es, von den Südhöhlen keine Karte angefertigt zu haben, so, wie er es in den Wasserhöhlen gemacht hatte. Dort hatte er sich nie verlaufen. Während Grolgorosch über dies alles nachdachte, schlenderte er mehr oder weniger aufmerksam durch den Felsendom. Er war gerade zu dem Schluß gekommen, daß es wohl weiser sei, zuerst einmal den Weg nach Hause zu finden, um später mit Schiefertafeln und Kohlestiften zurückzukommen und alles genauf aufzuzeichnen, als er in der Mitte der Halle an ein Hindernis prallte.

Verwundert unterbrach er seine Gedankengänge und stellte fest, daß er dieses Gebilde vorher gar nicht gesehen hatte. Wie auch, war es doch aus total schwarzem Stein gemacht. Es war ein runder Stein, der Grolgorosch etwa bis an die Hüften ging. Was er wohl darstellte? Vielleicht einen Altarstein, auf dem die Kalten ihre Opfer vertilgten? Bei genauerer Betrachtung stellte er verblüfft fest, daß es viel mehr war, als ein Stein. In der Mitte befand sich ein Loch, schwärzer als die Nacht, und kein Grund war zu erkennen. War es eine Art Brunnen? Er nahm einen Salzkristall aus dem Beutel und war ihn in den vermeintlichen Brunnen. Dabei fiel ihm auf, daß ein angenehm warmer Luftzug aus dem Brunnen strömte. Er lauschte in die dunkle Tiefe hinein, nahm aber kein Geräusch wahr. Es war auch kein Aufprall zu hören. Entweder war der Schacht sehr, sehr tief, oder Grund äußerst weich - auf jeden Fall war Grolgoroschs Neugierde geweckt. Er mußte wissen, was sich am Grunde des Schachtes befand! Die Wände des Schachtes waren rauh, unbehauen. Dort herunterzusteigen schien eine leichte Übung für einen so geschickten Kletterer zu sein. Nur die undurchdringliche Finsternis bereitete ihm Sorgen. Trotzdem faßte er sich ein Herz und begann mit dem Abstieg...

... die Dunkelheit schien ihn zu verschlucken. Eine so totale, ja fast greifbare Finsternis hatte Grolgorosch noch nie erlebt. Er fragte sich, ob es zur Erzeugung einer solchen Art von Dunkelheit auch einer eigenen Quelle bedürfe, so wie für Licht... Kalte Schauer liefen ihm über den Rücken, er bemerkte einen schwefeligen Geruch, außerdem wurde es merklich wärmer. Der Abstieg schien ewig zu dauern. Nach einiger Zeit erzeugte die Monotonie eine große Müdigkeit. Halb in Trance stieg er weiter und immer weiter hinab. Bis er schlagartig aus seinem Dämmerzustand gerissen wurde - von einem wohlbekannten, markerschütternden Pfeifen. Es kam von oben, und es kam näher. Die Kalten! Irgendwie hatten sie seine Spur aufgenommen. Doch wie sollte er sich wehren? Wohin entfliehen? Er begann, schneller und schneller zu klettern. Doch das Pfeifen wurde immer lauter. Er war zu langsam. Und dann waren sie da. Er sah ein weißgelbes Leuchten über sich, dann spürte er die Eiseskälte, wie sie ihn schlagartig und erbarmungslos umgab. "Jetzt heißt es Abschied nehmen von meiner geliebten Welt!", schoß es ihm durch den Kopf. Er spürte noch, wie ein Stück Fels, daß er verzweifelt mit seiner rechten Hand umklammert hielt, abbrach. Dann verlor er den Halt und fiel. Mit rasender Geschwindigkeit stürzte er in die bodenlose, schwarze Tiefe. Er registrierte noch, wie das Pfeifen sich veränderte - fast könnte man meinen, es klänge wütend - und dann hatte die Dunkelheit plötzlich ein Ende.

Grolgorosch fiel durch die Decke einer riesigen Höhle, die um ein Vielfaches größer war als der Felsendom. Eine schier unerträgliche Hitze herrschte hier. Vor dem Aufprall - der seinen Tod bedeuten würde - sah er nur noch, daß die Felsen hier eine feuerrote Färbung hatten. Und der Boden bestand gänzlich aus Lavagestein. Nur in der Mitte der runden Lavafläche befand sich eine Art Insel aus schwarzem Basalt, in dessen Mitte ein großes, rotschwarz gesprenkeltes Ei thronte. Mit einem Schrei prallte Grolgorosch auf dem spitzen, harten, unebenen Lavagestein auf...

... und Stefan erwachte. Schweißgebadet saß er in seinem Bett, den Mund noch geöffnet vom Schrei, den er soeben ausgestoßen hatte. Dieser Traum... er war so real gewesen, so wirklich! Er hatte sich tatsächlich für den Gnomling Grolgorosch gehalten... und die Kalten? Wo waren sie? Unsicher blickte er sich um. Nein, sein Zimmer war wie immer. Der Schreibtisch, der Schrank, sein Computer - alles war am rechten Platz. Kein bodenloser Schacht, keine Kalten, kein Lavagestein... aber auch keine Abenteuer, kein Draltal und keine Scylla! Stefan fühlte sich verwirrt, und auch ein wenig traurig. Nein, er war kein Gnomling, der Abenteuer in fremden Welten erlebte, er war Stefan Radbruch, wohnte bei seinen Eltern in Böblingen und besuchte die neunte Klasse des Gymnasiums... alles total normal, langweilige Tatsachen. Erschrocken stellte er fest, daß sein Buch etwas zerknittert am Boden lag. Er war wohl wieder einmal beim Lesen eingeschlafen. Behutsam hob er es auf. Es war der zweite Band von Tolkiens "Herr der Ringe". Er war gerade an der Stelle, an der die Gemeinschaft des Ringes durch die Höhlen von Moria zog und der leichtsinnige Pippin einen Stein in einen tiefen Brunnen geworfen hatte. Das erklärt alles. "Tja", dachte Stefan enttäuscht. "Die Welt ist halt leider nicht halb so magisch wie ich sie gerne hätte!"

Beim Aufstehen stieß sein rechter Ellbogen gegen etwas hartes. Es war ein schwarzer Stein, von roten Adern durchzogen. Stefan nahm ihn in die Hand, spürte seine Wärme. Und lächelnd freute er sich auf die nächste Nacht. Noch war die Welt nicht gänzlich ohne Magie. Noch gab es Hoffnung.